Interview

Türkei-Expertin zum Wahlkampf Erdogans "Erdogan ist kein Demokrat mehr"

Stand: 19.05.2014 17:38 Uhr

Trotz heftiger Kritik wird Ministerpräsident Erdogan seinen Wahlkampfauftritt in Köln wohl nicht absagen. Im Gegenteil: "Er wird versuchen, ihn sogar noch für sich auszuschlachten", meint die Journalistin Ayca Tolun im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Immer mehr deutsche Politiker kritisieren den geplanten Wahlkampf-Auftritt von Ministerpräsident Erdogan in Köln. Sollte er zu Hause bleiben?

Ayca Tolun: Es ist Erdogans gutes Recht, in Köln aufzutreten. Man muss auf der deutschen Seite schon mutig genug sein, ihn auszuladen. Wenn nicht, soll er natürlich kommen, sofern er es für richtig hält - auch trotz der massiven Kritik hier in Deutschland. Aber man kann davon ausgehen, dass er jetzt erst recht darauf bestehen wird. Denn er kann aus diesem Besuch - wegen des vielen Gegenwinds in der Türkei aber auch bei seinen Anhängern hier in Deutschland - noch zusätzlichen Profit schlagen, weil er sich in die "Höhle des Löwen" wagt. Er kann dabei persönlich für sich und für seine Anhänger überprüfen, ob die von der deutscher Seite immer wieder eingeforderte Meinungsfreiheit tatsächlich auch in Deutschland gilt.

Zur Person

Ayca Tolun ist Leiterin der Türkischen Redaktion bei der Hörfunkwelle Funkhaus Europa im WDR. Sie ist Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters. Sie ist geboren in Deutschland, aufgewachsen in der Türkei und zum Studium wieder nach Deutschland gekommen. Seitdem lebt sie hier.

tagesschau.de: Julia Klöckner von der CDU hat zum Boykott der Veranstaltung aufgerufen. Wird das bei den Türken in Deutschland Wirkung zeigen?

Tolun: Diesem Aufruf zum Boykott liegt ein Denkfehler zugrunde, denn diejenigen, die zu so einer Veranstaltung gehen, sind absolute Erdogan-Anhänger. In der Türkei und auch hier in Deutschland geht ein Riss durchs Land, der die türkische Gesellschaft in Erdogan-Anhänger und -Gegner teilt. Und die Anhänger lassen sich durch nichts von ihrer Gefolgschaft abbringen. Und die Kritiker würden sowieso nicht zu so einer Veranstaltung gehen. Und wenn doch, würden das die Veranstalter zu verhindern versuchen, um keine Störenfriede und unschöne Bilder zu riskieren.

Erdogans Rückhalt bleibt

tagesschau.de: Das heißt, durch Gezi-Proteste, Korruptionsskandal und Twitter- und YouTube-Sperren hat Erdogan in der deutsch-türkischen Bevölkerung kein bisschen an Rückhalt verloren?

Tolun: Die Menschen, die sowieso der Meinung waren, dass die Regierung Erdogan repressiv ist, haben dadurch ihren Beweis bekommen. Die anderen finden, wenn die Regierung zu Unrecht kritisiert wird - und sie wird in ihren Augen immer zu Unrecht kritisiert - dann kann man auch auf Twitter und Co. verzichten. Es gibt einfach kein Dazwischen, weder bei der Bevölkerung in Deutschland noch in der Türkei: Entweder man ist für Erdogan und nimmt vieles in Kauf, oder man ist ohnehin gegen ihn.

Man kann bei Twitter gut sehen, dass gerade auch die jüngeren türkischen Migranten in Deutschland, seit Erdogan regiert, stolz auf ihr Herkunftsland sind. Entscheidend ist für sie der Wirtschaftsboom, der mit Erdogan eingetreten ist. Wenn sie jetzt in die Türkei fahren, gibt es dort bessere Einkaufszentren als in Deutschland, sie fahren auf tollen Autobahnen und sagen: 'Endlich kann ich erhobenen Hauptes sagen, dass ich türkischstämmig bin.' Von den Nachteilen dieses Wirtschaftsbooms bekommen sie in Deutschland wenig mit.

Problem: "Es gibt keine Alternative zu Erdogan"

tagesschau.de: Ist der Widerstand gegen Erdogan in der in der Türkei durch das Grubenunglück überhaupt nicht gewachsen?

Tolun:  Wenn überhaupt, dann nur minimal. Es gibt zwar eine große Bestürzung und Trauer, aber zu großen Verschiebungen wird es nicht kommen. Nach den Gezi-Protesten hatte man ebenfalls darauf gehofft, dass Erdogan bei den Kommunalwahlen im vergangenen März unter die 40 Prozent fällt. Das ist aber nicht passiert. Und bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen - bei denen Erdogan sicherlich antreten wird - werden sich die Menschen auch nicht davon abhalten lassen, Erdogan zu wählen.

Das Problem ist, dass es zu Erdogan keine Alternative gibt. In der Türkei ist die Opposition traditionell sehr schwach und in der Erdogan-Ära ist sie besonders schwach. Das System Erdogan hat den Wirtschaftsaufschwung gebracht, und jetzt sind die meisten Türken eine Art Wirtschaftsgeiseln. Viele, die sich nie hätten träumen lassen, ein Auto oder eine Wohnung zu besitzen oder ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken, haben durch den Boom die Möglichkeit dazu bekommen. Allerdings finanziert auf Pump. Selbst die Menschen, die Erdogan ideologisch nicht folgen, haben Angst, dass es ohne Erdogan mit der Wirtschaft bergab geht und eine Blase platzen könnte. Die Opposition hat bisher überhaupt keine Aussagen zum Wirtschaftssystem gemacht. Die Menschen sagen sich: 'Bei Erdogan wissen wir wenigstens, was wir haben. Wer weiß, was danach kommt.'

tagesschau.de:  Wie erklären Sie sich Erdogans bizarres Verhalten nach dem Unglück?

Tolun: Erdogans Politik und sein Verhalten haben sich schon immer nur auf die eigene Anhängerschaft bezogen. Bei den letzten Parlamentswahlen haben ihn etwa 48 Prozent der Menschen gewählt, das heißt 52 Prozent haben ihn nicht gewählt. Aber diese Gegner blendet er einfach völlig aus, es sind in seinen Augen Vandalen, Atheisten, ein 'Pack'. Kritik an seinem Verhalten, das von seinen Gegnern kommt, dringt deshalb überhaupt nicht an ihn heran.  

Erdogans Anhänger akzeptieren einfach alles

Außerdem ist es nicht das erste Mal, dass Erdogan sich in solchen Fällen unsensibel äußert. Er hat Ähnliches schon oft gesagt. In der Türkei ist man es gewohnt, dass in der Politik ein schärferer Ton angeschlagen wird. Und speziell Erdogan ist in seiner cholerischen Art das Abbild des kleinen türkischen Mannes. Für seine rhetorischen Ausfälle gibt es eine viel höhere Akzeptanz, als das in Deutschland der Fall wäre. Weil es bei dem Grubenunglück eine so hohe Zahl an Todesopfern gibt, haben seine Äußerungen diesmal zwar höhere Wellen geschlagen. Aber das wird auch schnell wieder vergessen sein.

Und seine Anhänger akzeptieren einfach alles, jenseits jeder Logik. Bei den Pro-Erdogan-Kundgebungen stehen ganz vorne immer junge Leute, die sich ein Leichentuch umgehängt haben und skandieren, sie würden für ihren Ministerpräsidenten in den Tod gehen.

"Keine Tradition, politische Verantwortung zu übernehmen"

tagesschau.de: Ein Rücktritt Erdogans scheint in der Türkei überhaupt nicht zur Debatte zu stehen. Warum?

Tolun: Ein Rücktritt ist absolut ausgeschlossen. In der Türkei gab es schon sehr viele Katastrophen, in der neueren türkischen Geschichte gibt es aber keinerlei Beispiele dafür, dass jemand die politische Verantwortung übernommen hätte. Das würde eher als Feigheit und Schwäche ausgelegt. Zwar verlangen das ein paar Gegner, aber diese Stimmen werden bald verhallen. Politische Verantwortung zu übernehmen wird eher als Phänomen der westlichen Demokratie betrachtet mit dem Tenor: 'Bei uns gibt es so was nicht.'

tagesschau.de: In einer funktionierenden Demokratie wäre das aber die logische Konsequenz.

Tolun: Rein äußerlich ist die Türkei zwar eine Demokratie, in einem tieferen Sinne funktioniert sie aber tatsächlich nicht als solche. Erdogan ist zwar als Demokrat angetreten, aber er ist es schon lange nicht mehr. Zwar muss man ihm zu Gute halten, dass er das Militär aus der Politik heraus gedrängt hat. Tatsächlich hätte es in früheren Zeiten bei politischen Krisen wie beispielsweise den Gezi-Protesten womöglich einen Militärputsch gegeben. Aber es gibt jetzt keine Mechanismen mehr, Fehler zu beheben oder zu sanktionieren, weil eine entsprechende demokratische Tradition in der Türkei fehlt. Davon profitiert Erdogan jetzt auch.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über diese Thema berichtete die tagesschau am 19. Mai. um 17:00 Uhr.