In Kahramanmaras (Türkei) steht ein unbeschädigtes Haus inmitten von Trümmern zusammengebrochener Gebäude. | AFP
Interview

Die Türkei und die Erdbeben "Es ist eine Frage der Bauweise"

Stand: 08.02.2023 07:13 Uhr

Nach dem großen Erdbeben von 1999 in der Türkei habe die Regierung die Baugesetze zwar verschärft, sagt die Expertin Messari-Becker im Interview. Doch es komme darauf an, wie sie angewandt und kontrolliert würden.

tagesschau24: Hat sich seit dem letzten großen Beben von 1999 im türkischen Bauwesen gar nichts verbessert?

Lamia Messari-Becker: Doch, es gab nach dem großen Erdbeben von 1999 tatsächlich neue Gesetze der türkischen Regierung, nach neuen Erdbebenstandards zu bauen. Aber die Frage ist, ob das so eingehalten wurde oder nicht. Es ist zu früh, darüber zu urteilen.

Lamia Messari-Becker | privat
Zur Person

Lamia Messari-Becker ist Bauingenieurin und leitet das Department Architektur mit dem Lehrgebiet Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen.

"Eine Frage von Untersuchungen"

tagesschau24: Wird in der Türkei überhaupt kontrolliert, ob die Gesetze eingehalten werden?

Messari-Becker: Das Thema des Vollzugs ist ein wichtiges. Werden die erforderlichen Bodenuntersuchungen tatsächlich ausgeführt, wird darauf reagiert, ob das Gestein oder Sandboden ist, wird entsprechend fundamentiert und werden die Gebäude entsprechend gebaut?

Das ist eine Frage von Untersuchungen vor der Baugenehmigung, während des Baus und insbesondere auch bei der Abnahme nachher. Das wird sicherlich jetzt auch die türkischen Kollegen beschäftigen.

"Keine Frage von Glück oder Pech"

tagesschau24: Wir sehen Bilder aus der Türkei, auf denen ein ganzes Wohngebiet noch steht, nahezu unbeschädigt aussieht, und in der Mitte ist ein Gebäude zusammengebrochen wie ein Kartenhaus. Ist das eine Frage von Glück oder Pech, eine Frage des Standortes oder sind die Häuser grundverschieden gebaut?

Messari-Becker: Es ist keine Frage von Glück und Pech. Es ist eine Frage der Bauweise. Da ist offensichtlich, dass unterschiedliche Standards bestehen. Und dann kommt es darauf an, aus welcher Zeit die Gebäude stammen, die zusammengebrochen sind, und wann sie gebaut wurden.

Aber letztlich geht es um erdbebensicheres Bauen, darum, dass die tragende Struktur eine gewisse Bewegung erlaubt, damit das nicht alles schnell zusammenbricht. Da sind die Innenwände nicht interessant. Interessant sind die Fundamente, die Stützen, die Stahlbetondecken et cetera. Da muss jetzt genau hingeschaut werden.

"Beweglichkeit und Flexibilität helfen"

tagesschau24: Wie baut man dann ein Haus erdbebensicher? Offensichtlich darf es nicht ganz starr gebaut sein.

Messari-Becker: Genau. Der "Angriff" kommt ja vom Boden her. Da spielt eine große Rolle, welche Bodenbeschaffenheit vorliegt - Gestein oder Sandboden? Dann schließt sich die Frage an, wie ich diese Gebäude fundamentieren kann. Da geht es um die Tiefe und Art der Fundamente.

Danach geht es um die gewählten Materialien. Welche Tragstruktur hat das Gebäude? In Japan baut man Häuser, die sich in gewisser Weise mitbewegen können. Das geht natürlich nicht unendlich, aber eine gewisse Beweglichkeit und Flexibilität helfen. Und trotzdem muss hier die Frage gestellt werden: Sind die erforderlichen Untersuchungen durchgeführt worden? Und ist auch entsprechend gebaut worden?

tagesschau24: Hätte denn die türkische Baubranche aus Ihrer Sicht das Know-how und wendet es nur nicht an?

Messari-Becker: Die türkische Baubranche hätte das Know-how. Sie ist bei der Statik gut aufgestellt. Sie ist am Boden, bei den Rettungsmaßnahmen gut aufgestellt. Sie weiß, dass sie in einer Erdbebenzone leben. Sie hat Dutzende Rettungsteams. Die Frage ist hier: Woher stammen die Gebäude, wann wurden sie gebaut und wie wurde das kontrolliert?

"Offenbar unterschiedliche Einhaltungen von Standards"

tagesschau24: Das heißt also, Häuser, die neuer sind, haben wahrscheinlich eher standgehalten - und die älteren von vor 1999 nicht?

Messari-Becker: Davon muss man heute ausgehen. Die Situation ist noch etwas unübersichtlich, aber man muss davon ausgehen, dass es hier offenbar unterschiedliche Bauweisen und unterschiedliche Ausführungen oder Einhaltungen von Standards gab.

tagesschau24: Ist den Menschen vor Ort klar, dass sie in einem erdbebensicheren oder in einem unsicheren Haus wohnen? Steht das irgendwo, wenn ich eine Mietwohnung beziehe?

Messari-Becker: Ich glaube nicht, dass das irgendwo so steht. Aber den Behörden und den Forschern, die die tektonischen Bewegungen beobachten, ist das natürlich klar - und auch den Bauämtern, davon gehe ich aus.

Wie weit das im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist, kann ich nicht von hier aus beurteilen. Aber die Türkei wurde immer wieder von Erdbeben heimgesucht. Insofern braucht es tatsächlich auch eine Novellierung, mehr Kontrolle und einen besseren Katastrophenschutz.

Das Gespräch führte André Schünke, tagesschau24. Für die schriftliche Fassung wurde das Interview leicht angepasst.

Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 07. Februar 2023 um 12:00 Uhr.