Indigene zeigen im Amazonas bei Acre (Brasilien) auf einen Stamm, an dem die Ayahuasca-Pflanze wächst.
Weltspiegel

Brasilien "Mit Ayahuasca reinigen wir unsere Seele"

Stand: 23.04.2023 15:21 Uhr

Nirgendwo ist die psychoaktive Substanz Ayahuasca so verbreitet wie in Brasilien. Indigene nutzen sie seit Generationen für Rituale. Forscher setzen darauf als alternatives Antidepressivum - und als Mittel gegen Drogensucht.  

Monoton und kehlig presst Häuptling Iba Huni Kuin uralte Verse durch seine Lippen. Sein gesungenenes Gebet durchdringt den vom Mond beschienenen Urwald. Erst wiederholt er die Verse, dann kommen neue hinzu, und sein Gesang scheint mit dem Zirpen der Grillen zu verschwimmen. 

Iba Huni Kuin leitet eine Ayahuasca-Zeremonie in Acre, im äußersten Westen Brasiliens, wo die nächste Landstraße viele Bootsstunden entfernt ist. Um ihn herum sitzen der Schamane seines Dorfes, Frauen, einige Kinder und Paulo und Daniel, zwei Touristen aus Sao Paulo.

Einige starren auf Punkte im Urwald, andere sitzen am Feuer und wippen mit dem Kopf hin und her. "Mit Ayahuasca reinigen wir unsere Seele und lernen, was wir als Menschen geistig und seelisch erreichen wollen", erklärt Häuptling Iba mit ernster Miene. 

Ayahuasca als Rauschmittel und Antidepressivum

Matthias Ebert, ARD Rio de Janeiro, weltspiegel

Die "Liane der Geister"

Ayahuasca heißt übersetzt "Liane der Geister". Sie wächst im Dorf des Huni-Kuin-Stammes gleich neben dem Fluss. Häuptling Iba spürt, dass die Nachfrage nach Ayahuasca-Zeremonien steigt. Ausländer und Brasilianer kommen immer öfter nach Acre, um bei Indigenen spirituelle Erfahrungen zu machen.  

Einige tausend Kilometer weiter westlich erforscht Neurologe Draulio Araujo von der Nationalen Universität Rio Grande do Norte die psychoaktive Substanz. Anfangs, 2008, begann er, die Hirnaktivität von Ayahuasca-Konsumenten während des Rauschs zu untersuchen. Mit Hilfe der Magnetresonanztomografie fand er heraus, dass dabei im Hirn verschiedene Regionen besonders aktiviert werden - unter anderem das visuelle Zentrum, sodass es beim Rausch zu visuellen Wahrnehmungen kommt wie beim intensiven Träumen.

Außerdem habe die Analyse ergeben, dass im Gehirn die Selbsteinsicht in die eigene Psyche stimuliert werde und man in der Lage sei, Gewohnheiten zu erkennen und zu hinterfragen. "Wir sehen Ayahuasca als ein mögliches Medikament, um Drogenabhängigkeit - also den intensiven Konsum von Kokain, Tabak, Alkohol oder Crack - zu überwinden“, erklärt Araujo.

 

Wissenschaftler Draulio Araujo führt an einem Probanden eine neurologische Untersuchung über die Wirkung von Ayahuasca durch.

Was geschieht während des Rausches? Dieser Frage geht Wissenschaftler Araujo nach.

Ein Mittel gegen Drogensucht?

Beispiele dafür gibt es unweit des Zuckerhuts in Rio de Janeiro. In der Ayahuasca-Kirche Santo Daime gibt es viele Mitglieder, die davon berichten, wie sie Suchterkrankungen besiegt haben.

Emerson Agulha sagt, er sei früher Kettenraucher gewesen, habe jede Menge Alkohol getrunken und regelmäßig Kokain konsumiert. Seit ein paar Jahren jedoch sei er clean, seit er Mitglied bei Santo Daime ist: "Meine Familie sagt, ich sei jetzt ein besserer Mensch und weniger aggressiv."

Bei Santo Daime ist die berauschende Ayahuasca-Pflanze Mittelpunkt religiöser Zeremonien, die mehrmals im Monat stattfinden. Aus kleinen Nischen mit grünen Fensterläden schenken die Kirchenobersten den braunen Ayahuasca-Sud an die Gläubigen aus. Das Ganze ist legal, seit Brasiliens Regierung in den 1970er-Jahren Ayahuasca für religiöse Zwecke zugelassen hat. 

In der Santo-Daime-Kirche in Acre (Brasilien) wird Ayahuasca-Sud ausgeschenkt

Anstehen für den Sud: In der Santo-Daime-Kirche wird in kleinen Gläsern Ayahuasca ausgeschenkt.

Per Ritual in den Rausch

Das Gebräu besteht aus dem psychoaktiven Wirkstoff DMT der Ayahuasca-Liane und einem Blatt einer kaffeeartigen Pflanze. Beides stundenlang aufgekocht versetzt Konsumenten in einen Rausch.

Beim Santo-Daime-Gottesdienst ist Ayahuasca das heilige Sakrament - in einem Ritual, das katholischen Glauben mit afrobrasilianischer Spiritualität und Naturreligion vermischt. 

Stundenlange Zeremonie

Dabei stehen Frauen und Männer streng getrennt auf verschiedenen Seiten der Kirche. Mehr als zehn Stunden lang singen sie Verse, die der Kirchengründer einst aufgeschrieben hat. Mal huldigen sie dabei Jesus Christus, mal der Natur und ihrer Vollkommenheit. Einige wirken glückselig, andere wie benommen.

Sie nennen es Arbeit an und mit der eigenen Psyche: "Wir trinken eine Substanz mit unglaublichen Kräften und lobpreisen die Erde bei diesem Fest für uns und alles Leben auf dem Planeten", erklärt Gabriel Holliver während des Rituals. 

Zeremonie in der Santo-Daime-Kirche in Acre (Brasilien)

Die Zeremonie füllt fast einen halben Tag aus: Bis zu zehn Stunden singen die Kirchenmitglieder in Acre.

Gegenstand von Studien

Für Wissenschaftler Draulio Araujo ist die Beliebtheit des Ayahuasca-Kults keine Überraschung. Seine jüngsten Studien belegen, dass die Substanz bei Depressionen helfen könne.

"Unsere Probanden haben angegeben, schon nach 24 Stunden eine Verbesserung ihres Zustands zu empfinden. Daher sehen wir Ayahuasca als ein mögliches, alternatives Medikament bei psychischen Erkrankungen wie Depression, Ängsten oder posttraumatischen Belastungsstörungen."  

Abhängig mache der Ayahuasca-Wirkstoff nicht, erklärt Araujo. Und: Für eine Überdosis müsse man 30 Liter auf einmal trinken - "das schafft man noch nicht mal mit Wasser".

Ein Angehöriger des Huni-Kuin-Stammes zeigt im Amazonas bei Acre (Brasilien) auf einen Baum.

Für die Kenntnisse des Medizinmannes des Huni-Kuin-Stammes interessieren auch brasilianische Touristen, die sich von ihm durch den Amazonas führen lassen.

Womit Touristen zu kämpfen haben

Dennoch gibt es immer wieder Berichte über Horrortrips und negative Erlebnisse auf Ayahuasca. Bei den Huni Kuin jedoch sei so etwas noch nicht vorgekommen, behauptet Häuptling Iba.  

Lediglich eine Nebenwirkung sorge manche Touristen, die herkommen: Viele müssten sich während des Rauschs übergeben.

Das sei normal, sagt Iba, als Teil der "Reinigung", bei der man seine eigenen Gedanken hinterfrage und sich selbst und seine Gefühle anders wahrnehme. 

Das Weltbild des Huni-Kuin-Stammes

Am Tag nach der Zeremonie steht Häuptling Iba in einem Haus mit Strohdach und singt nochmal die Verse des Rituals. Sein Sohn Bina malt währenddessen ihre Bedeutung auf eine Leinwand: Schlangen, Flüsse Bäume, Naturgötter.

Am Ende entsteht ein buntes Bild des Urwalds. "Dies ist unser überliefertes Weltbild. Die Verse sind älter als mein Großvater und stammen aus den Urzeiten unseres Planeten. Sie stehen für unsere kulturellen Wurzeln und unsere indigene Pädagogik." 

Ein Indigener vom Huni-Kuin-Stamm malt bei Acre (Brasilien) auf einer Leinwand.

Aus einem religiösen Ritual wird Kunst: Die Bilder von Bina sind inzwischen auch international gefragt.

Museen zeigen Interesse

Ibas und Binas Bilder hängen seit wenigen Jahren auch in Museen in München, Chile und Sao Paulo. Manche sind mehrere Meter hoch. Immer öfter bekommen die Huni Kuin Anfragen, ihre Ayahuasca-Gemälde auszustellen. Sie erleben derzeit eine enorme Aufwertung ihrer Kunst und Kultur.  

Die Erlöse der Ausstellungen und Verkäufe von Bildern will Iba in die Amazonasaufforstung stecken: "Ich will mit den Einnahmen abgeholztes Land in dieser Gegend kaufen und Bäume pflanzen. Ich weiß, wie das geht und will damit einen Beitrag leisten."  

Vom Boom der psychoaktiven Substanz Ayahuasca profitieren demnach mittlerweile auch die Indigenen. Forscher hoffen auf die Zulassung als Medikament bei Depressionen. Und die Santo-Daime-Kirche will expandieren. In Deutschland gebe es bereits einen Ableger.   

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der "Weltspiegel" am 23. April 2023 um 18:30 Uhr.