Abgeordnete im britischen Unterhaus.

Britische Abgeordnete in Angst "Ich trete nicht mehr an"

Stand: 05.11.2019 03:04 Uhr

In Großbritannien kandidieren mehrere Abgeordnete und Minister nicht mehr für ihr Amt, weil sie zunehmend bedroht werden. Ihnen allen ist noch die Ermordung der Labour-Abgeordneten Cox in Erinnerung.

"Ich habe Todesdrohungen erhalten, Leute, die getwittert haben, dass ich gehängt werden sollte, falls, Zitat: 'sich ein Baum finden lässt, der das Gewicht der fetten Nutte aushält'." Erfahrungen der schwarzen Labour-Politikerin Diane Abbott. Sie ist eine der vielen Abgeordneten, die bedroht werden. Rassistische, anti-semitische, frauenfeindliche Beschimpfungen gab es auch schon vor der Brexit-Debatte, aber im Zuge dieser Debatte ist es noch deutlich schlimmer geworden.

Einem anderen Abgeordneten wird angedroht, dass man ihn ermorden und seine Frau und Töchter vergewaltigen wird. Immer wieder taucht auch das Wort "traitor", Verräter, auf: "Ihr seid ein Haufen verlogener Verräter. Man sollte Euch rausbringen und erschießen", heißt es dann zum Beispiel.

Verlassen des Parlaments nur unter Polizeischutz

Bedroht werden auch die Minister. Nach einer der letzten Brexit-Abstimmungen im Unterhaus konnten die Kabinettsmitglieder nur unter Polizeischutz das Parlament verlassen. Diesem Druck halten nicht alle stand. Nicky Morgan etwa, die im Kabinett von Premierminister Boris Johnson für Digitales, Kultur, Medien und Sport zuständig ist, will sich bei der Unterhauswahl nicht mehr aufstellen lassen. Der Grund: zu massive Bedrohungen, zu große Folgen für ihre Familie. Morgan hatte 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt, war aber bereit, das Ergebnis des Referendums zu akzeptieren und den Brexit umzusetzen.

Nun gibt sie auf. Ebenso wie zahlreiche Abgeordnete, unter ihnen auch Heidi Allen, die vor Kurzem von den Konservativen zu den Liberaldemokraten gewechselt ist. Sie hat einen Brief an ihre Wähler veröffentlicht. Darin heißt es: 

Ich habe es geliebt, ihre Abgeordnete zu sein, aber ich kann nicht mehr angesichts der Übergriffe auf mein Privatleben, der Gehässigkeit und Einschüchterung, die normal geworden sind. Niemand - egal in welchem Job - sollte Drohungen und aggressive E-Mails hinnehmen müssen, sich auf der Straße anschreien oder in den sozialen Medien beschimpfen lassen müssen.

Zahl der Straftaten gegen Abgeordnete verdoppelt

Allen spricht davon, dass das alles zutiefst entmenschlichend sei. Sie hat ihr Haus inzwischen mit Schlössern, Lichtern und Notfallsystemen professionell sichern lassen. Die Angst ist begründet: So hat sich die Zahl der Straftaten, die sich gegen Abgeordnete richteten, von 2017 auf 2018 mehr als verdoppelt. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 342 solcher Straftaten registriert.

Zudem ist allen Politikern der Fall Jo Cox in Erinnerung. Die Labour-Abgeordnete war 2016 kurz vor dem EU-Referendum von einem Mann angegriffen und ermordet worden. Die wachsende Bedrohung führt dazu, dass mehr und mehr Geld für die Sicherheit der Abgeordneten ausgegeben werden muss. Einem Bericht des Institute for Government zufolge ist der Betrag zwischen 2016 und 2018 von gut 170.000 Pfund auf vier Millionen Pfund gestiegen.

"Ausmaß der Bedrohung, das wir so bisher nicht kannten"

Lindsay Hoyle, der neue Parlamentspräsident, hatte sich angesichts dieser Entwicklung schon vor Monaten äußerst besorgt gezeigt:

Es ist das Ausmaß der Bedrohung, das wir so bisher nicht kannten. Tatsache ist, wenn sich Abgeordnete an mich wenden und sagen: 'Lindsay, ich trete nicht mehr an, ich fühle mich nicht sicher, ich muss an meine Familie denken!', dann laufen wir Gefahr, die Demokratie in diesem Land zu verlieren.
Imke Köhler, Imke Köhler, ARD London, 05.11.2019 10:39 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 05. November 2019 um 11:26 Uhr.