"Radio Free Europe" Prager Stimme gegen Kreml-Propaganda

Stand: 26.08.2022 04:59 Uhr

Der US-finanzierte Sender "Radio Free Europe" erreicht in Osteuropa Millionen Menschen. Seit Russlands Einmarsch in die Ukraine ist die Mission schwierig geworden: Mitarbeiter sprechen von einer Lage wie im Kalten Krieg.

Von Niels Bula, ARD-Studio Prag

Wolodymyr Mychajlow hatte seinen Koffer für sechs Wochen gepackt, als er sich im Februar auf den Weg von Kiew nach Prag machte. Dass er dort wesentlich länger bleiben würde, hatte der ukrainische Journalist nicht geplant. Seit 2020 arbeitet er für den russischsprachigen TV-Nachrichtensender "Nastojaschtscheje Wremja", auf Deutsch "Gegenwart". Die Zentrale des Senders liegt in Prag. Mychajlow war für eine Fortbildung dorthin gereist. Als am 24. Februar dann die russische Invasion begann, waren er und seine Kolleginnen und Kollegen schockiert. "Ein Freund hat mir geschrieben, dass man von meinem Wohnviertel Explosionen hört. In den sozialen Netzwerken habe ich Bilder von Militärtechnik in den Straßen von Kiew gesehen", erinnert er sich.

An dem Tag sendete "Nastojaschtscheje Wremja" fast rund um die Uhr live. Drei Stunden lang moderierte Mychajlow die Spezialsendung zum Krieg, danach wurde er von einem Kollegen abgelöst. Zwischendurch schaute er auf sein Handy und las neue Nachrichten von seinen Freunden aus Kiew. "Danach einfach weiter zu moderieren war nicht einfach. Meine Stimme war nicht so stark wie sonst", sagt er.

Vom US-Kongress finanziert

Der Sender "Nastojaschtscheje Wremja" gehört zu "Radio Free Europe"/"Radio Liberty", einer Rundfunkanstalt, die von den USA finanziert wird. Gegründet wurde sie im Kalten Krieg, als die USA die Menschen in den osteuropäischen und zentralasiatischen, kommunistisch regierten Staaten erreichen wollten. Seit 1995 sitzt "Radio Free Europe" in Prag und produziert Sendungen und Online-Inhalte für 23 Länder in 27 Sprachen - Berichterstattung für Weltregionen, in denen die Pressefreiheit stark eingeschränkt ist.

Auch wenn dafür das Geld vom US-Kongress aus Washington kommt, seien die Journalistinnen und Journalisten in ihrer Arbeit unabhängig, sagt Senderchef Jamie Fly. "Genauso wie Auslandssender, etwa wie die Deutsche Welle, nehmen wir unsere Unabhängigkeit sehr ernst. Wir haben Kontrollen, die sicherstellen, das uns kein US-Offizieller etwas diktieren kann, was und wie wir berichten sollen." Die Rolle von "Radio Free Europe" sei nicht, ein bestimmtes Bild der USA zu verbreiten, sagt Fly: "Wir berichten über Themen, die für unser Publikum vor Ort wichtig sind."

Arbeit in Russland undercover

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist die Arbeit für den Sender noch gefährlicher geworden. Bei einem russischen Angriff auf Kiew im April starb die Journalistin Vira Hyrych, die für "Radio Free Europe" berichtet hatte. In Russland ist unterdessen freie Berichterstattung kaum noch möglich. Zuliefernde Journalistinnen und Journalisten können nur noch verdeckt im Land arbeiten. Sein Moskauer Büro hat der Sender geschlossen.

Einige von der Moskauer Belegschaft haben Russland verlassen und arbeiten nun in Prag, darunter auch Radiomoderatorin Marjana Torotscheschnikowa. Sie kam schon 2021 in die tschechische Hauptstadt, als für den Sender die Arbeit in Russland immer schwieriger wurde. In Moskau hat sie ihren Mann und ihre erwachsene Tochter zurückgelassen. Ihr Mann hänge nun mal an seinem Job in Moskau und bekäme nicht so einfach eine Arbeitserlaubnis in der EU, sagt sie. Vor kurzem hat er sie in Prag besucht: "Wir treffen uns regelmäßig auf neutralem Territorium - wie in einem Agentenfilm".

VPN-Clients und IP-Adresswechsel

Ihr Job in Prag sei nicht mehr derselbe wie in Moskau, sagt Maryana Torotscheschnikowa: Gesprächspartner, die in ihrer Sendung auftreten, kann sie nur per Skype oder Zoom zuschalten. "Sehr selten kommt jemand zu mir ins Studio. Das sind dann zu Beispiel Menschen, die auch wegen der politischen Umstände aus Russland emigriert sind."

Trotz schwieriger Arbeitsbedingungen hat das Interesse am Sender nicht nachgelassen. Seit Kriegsbeginn erreiche das Programm dreimal so viele Menschen wie zuvor, sagt Direktor Fly - und das, obwohl es nicht so einfach ist, von Russland aus auf die Inhalte zuzugreifen: Die Webseiten von "Radio Free Europe" sind dort blockiert und auch soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram wurden für extremistisch erklärt und offiziell verboten. "Deshalb wechseln wir mehrmals am Tag die Adressen unserer Internetseiten, um schneller als die Kreml-Zensur zu sein", erklärt er.

Viele Menschen in Russland nutzten auch sogenannte VPN-Clients, mit denen sie die Sperren umgehen können. "Wir sehen, dass unser russisches Publikum diese Werkzeuge benutzt. Aber es ist ein Katz- und Maus-Spiel. Wir versuchen schneller als die Zensoren zu sein. Und sie verbessern ihre Techniken, um unsere Websites zu blocken."

Das alles fühle sich ein wenig wie früher im Kalten Krieg an, als die Sowjetunion und ihre Verbündeten Störsender einsetzten und "Radio Free Europe" regelmäßig die Frequenz wechseln musste. "Die Nutzer machen ähnliche Erfahrungen wie damals. Sie müssen sich zusätzliche Anstrengung unternehmen, um an unabhängige Informationen zu kommen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 26. August 2022 um 08:42 Uhr.