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Interview mit Ökonom Carsten Brzeski "Heftig, was die Griechen alles schlucken"

Stand: 13.07.2015 14:45 Uhr

Alles - bitte nur kein Grexit. Darum hätten die Griechen der Einigung zugestimmt, sagt Ökonom Carsten Brzeski im Gespräch mit tagesschau.de. Wird nun alles gut? "Nein." Ist denn wenigstens der Grexit vom Tisch? "Auch nicht." Aber immerhin, so Brzeski, die ganz große Katastrophe sei erst mal abgewendet.

tagesschau.de: Herr Brzeski, die Eurozone und Griechenland haben sich auf die Umrisse eines dritten Hilfspakets geeinigt. Lässt sich schon ein erstes Fazit ziehen?

Carsten Brzeski: Ich denke schon. Mein Eindruck ist, dass die Griechen ganz schön viel geschluckt haben. Richtig heftig.

tagesschau.de: Zum Beispiel?

Brzeski: Von der Mehrwertsteuererhöhung bis zur Rentenrefrom - was monatelang hochumstritten war, müssen die Griechen jetzt in zwei Tagen durchs Parlament peitschen, und zwar in der Maximalvariante. Und bis nächsten Montag sollen die Abgeordneten gleich noch eine zweite Welle an Gesetzen beschließen, darunter anscheinend auch Reformen, über die bislang noch gar nicht groß debattiert wurde. Alles in allem ist das der ultimative Test.

Zur Person

Carsten Brzeski ist einer der profiliertesten Experten in Sachen Eurozone - und seit 2013 Chefvolkswirt der deutsch-niederländischen Bank ING Diba, bei der er 2008 als Analyst begann. Zuvor arbeitete Brzeski in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Amsterdamer Bank ABN Amro, zudem war er jeweils rund vier Jahren für das niederländische Finanzministerium und die EU-Kommission tätig. Brzeski hat einen Diplom-Abschluss in Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, studierte zudem in Boston und Harvard.

tagesschau.de: Der Test, ob die Griechen es ernst meinen?

Brzeski: Genau. Die Eurozone sagt, wenn wir euch weiter unterstützen sollen, dann zeigt ihr erst mal, dass ihr es ernst meint. Wenn man so will, kriegen die Griechen jetzt einige Tage Zeit, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Und dann sieht man weiter.

tagesschau.de: Warum lässt Tsipras sich darauf ein?

Brzeski: Weil seine einzige Alternative der Grexit gewesen wäre. Und den wollte er offenbar unter allen Umständen vermeiden.

"Wachstum bringt das Programm erst mal nicht"

tagesschau.de: 82 bis 86 Milliarden Euro, so heißt es in dem Dokument von heute früh, brauchen die Griechen in den kommenden drei Jahren. Das Geld dürfte zum großen Teil aus dem Rettungsfonds ESM kommen. Aber wo fließt es letztlich hin?

Brzeski: Mit dem Geld sollen die Griechen drei Jahre lang die Finanzierungslücken in ihrem Haushalt schließen. Es stellt also beispielsweise sicher, dass der Staat weiterhin die Renten ausbezahlen kann. Und natürlich ist das Geld auch dazu da, dass die Griechen ihren Verpflichtungen gegenüber den bisherigen Gläubigern nachkommen kann. Ein großer Teil des ESM-Geldes fließt also in letzter Konsequenz an die EZB und den IWF ...

tagesschau.de: ... und nicht in Investitionen für die griechische Wirtschaft?

Brzeski: Nein. Es geht erst in einmal schlicht darum, den Staatsbankrott abzuwenden. Für kurzfristiges Wachstum wird das Paket nicht sorgen. Das wird allenfalls mittelfristig passieren, wenn die angestoßenen Strukturreformen wirken und jene Gelder fließen, die tatsächlich für Investitionen gedacht sind. Auch davon ist in dem Kompromisspapier ja die Rede: Neben den bis zu 86 Milliarden Euro sollen die Griechen 35 Milliarden Euro aus dem sogenannten Juncker-Plan bekommen, also aus dem riesigen europäischen Investitionsprogramm, das vor einiger Zeit verabschiedet wurde.

"Man kann auch sagen: Mogelpackung"

tagesschau.de: Laut dem Kompromisspapier sind sogar noch weitere 12,5 Milliarden Euro für Investitionen vorgesehen. Dieses Geld wiederum soll aus dem umstrittenen Schäuble-Treuhandfonds kommen, in den die Griechen ihren privatisierungsfähigen Staatsbesitz überführen sollen - angeblich 50 Milliarden Euro schwer. Ganz ehrlich: Ist das nicht alles ein bisschen obskur?

Bzreski: Doch. Ich würde sogar sagen, das ist eine Mogelpackung.

tagesschau.de: 25 Milliarden Euro soll zum Beispiel die (Re-)Privatisierung der Banken einbringen. Aber sind die nicht mehr oder weniger pleite?

Bzreski: Genau das meine ich. Bevor man die Banken wieder verkaufen kann, muss man sie ja erst einmal im Zuge einer Verstaatlichung mit neuen Kapital ausstatten. Dazu sind aber laut Dokument erst einmal bis zu 25 Milliarden Euro nötig - die aus den ESM-Milliarden kommen sollen. Auch hier stellt die Eurozone also erst einmal Geld zur Verfügung in der vagen Hoffnung, es später vielleicht zurückzubekommen.

tagesschau.de: Und die übrigen 25 Milliarden Euro Privatisierungserlös - woher sollen die kommen?

Brzeski: Naja, ein paar verkäufliche Vermögenswerte hat der griechische Staat ja doch noch, zum Beispiel Häfen, Flughäfen, die Bahngesellschaft sowie Gas- und Wasserversorger. Trotzdem scheint mir das Ziel, auf diesem Wege 25 Milliarden Euro zu erlösen, gelinde gesagt ambitioniert. Man darf ja auch nicht vergessen, dass das Ziel, 50 Milliarden Euro über Privatisierungen zu erlösen, 2011 schon einmal auf den Weg gebracht wurde. Bisher leider ohne große Erfolge.

"Trotz allem - das ist keine Insolvenzverschleppung"

tagesschau.de: Der Präsident eines deutschen Wirtschaftsverbandes hat von "Insolvenzverschleppung" gesprochen. Würden Sie das unterschreiben?

Brzeski: Nein, würde ich nicht. Wenn man die schwierigen politischen Umstände einmal außer Acht lässt und sich nur die nackten Fakten anschaut - dann lässt sich durchaus behaupten, dass die grundsätzlichen Bedingungen geschaffen wurden, einen griechischen Staatsbankrott dauerhaft abzuwenden.

tagesschau.de: Auch ohne Schuldenschnitt?

Brzeski: Zumindest Schuldenerleichterungen soll es ja geben, das hat auch Kanzlerin Merkel heute Morgen bei ihrer Pressekonferenz so gesagt.

tagesschau.de: Das heißt, im besten Falle sind die griechischen Schulden wieder "tragfähig", wie man das nennt?

Brzeski: Diese Frage lässt sich momentan nicht eindeutig mit Ja beantworten. Aber eben auch nicht mit Nein.

"Der Grexit lauert weiter"

tagesschau.de: Wie geht es denn in den nächsten Tagen weiter - zum Beispiel mit den Banken?

Brzeski: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die griechischen Geldhäuser auf absehbare Zeit wieder vollständig öffnen. Denn dann würde ja gleich der Bank-Run einsetzen - also genau das Chaos entstehen, das man mit dem dritten Hilfspaket vermeiden will.

tagesschau.de: Und wenn die EZB ihre Notkredite wieder hochfährt?

Brzeski: Auch das reicht meiner Ansicht nach nicht aus. Solange sich die Menschen nicht wieder zu 100 Prozent sicher sein können, dass ihr Geld bei den Banken sicher liegt, braucht es irgendeine Form von Restriktionen. Ich fürchte, die Banken können allerfrühestens wieder öffnen, wenn die besagte Rekapitalisierung über die Bühne ist. Und das wird dauern.

tageschau.de: Das heißt, die Griechen sollen jetzt - Ihre Formulierung! - "richtig heftige" Spar- und Reformmaßnahmen umsetzen, aber ohne Aussicht, dass sich ihr Alltagsleben rasch wieder normalisiert?

Brzeski: Genau so scheint es zu sein. Die Eurozone und die griechische Regierung haben für den Moment den Grexit abgewendet - und damit aus meiner Sicht eine noch viel schlimmere Katastrophe. Das heißt aber nicht, dass jetzt alles wieder gut wird. Im Gegenteil, die Lage bleibt hochfragil. Aus meiner Sicht ist der Grexit noch lange nicht vom Tisch. Er lauert weiter, gewissermaßen direkt hinter der nächsten Ecke.

Das Interview führte Heinz-Roger Dohms, tagesschau.de

Zu den Ergebnissen des EU-Sondergipfels sendet das Erste um 20:15 Uhr den ARD-Brennpunkt: Griechenland - die Entscheidung.