Ein Senior arbeitet in seiner Elektronik-Werkstatt.

Altersarmut und Fachkräftemangel Immer mehr Rentner gehen arbeiten

Stand: 22.10.2023 05:14 Uhr

Eine steigende Zahl an Rentnern geht auch im Ruhestand einer Beschäftigung nach. Einige werden wegen der Personalnot von Betrieben angeworben. Andere müssen weiter arbeiten, weil die Rente nicht reicht.

Von Carolyn Wißing, WDR

Jeden Morgen um 4.15 Uhr klingelt bei Rentner Egon Wittersheim der Wecker. Der 65-Jährige ist zurück in seinem alten Job bei den Abfallwirtschaftsbetrieben BonnOrange und steuert das 26 Tonnen schwere Biomüll-Sammelfahrzeug durch die schmalen Straßen der Stadt. Nach 28 Jahren kennt er die Tour in- und auswendig. 

Eigentlich ist er seit Jahresbeginn in Rente. Doch im April hatte sein Arbeitgeber ihn angeschrieben und gefragt, ob er sich vorstellen könne, für einige Monate auszuhelfen. "Ich hatte zeitlich nichts anderes vor, meine Familie war einverstanden, also habe ich am nächsten Tag angerufen", sagt Wittersheim. Bis Ende des Jahres hat er jetzt einen Vertrag und arbeitet wieder Vollzeit. 

Es fehlt an Nachwuchs

BonnOrange hat mehrere verrentete Mitarbeitende zurückgeholt. Bei den Kraftfahrern gibt es innerbetrieblich derzeit nicht genügend Nachwuchs. Einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind gerade in der Ausbildung. Doch es dauert noch Monate bis die in der Lage sind, die Müllfahrzeuge sicher durch die Innenstadt zu lenken.

Auch auf dem freien Markt hat das Unternehmen keine Chance gesehen. "Es ist nahezu unmöglich, genau für diese Tätigkeit einen Kraftfahrer zu bekommen, der ein Abfallsammelfahrzeug fahren kann", erklärt Unternehmenssprecher Jérôme Lefèvre. 

In den nächsten Jahren werden bei BonnOrange viele weitere Mitarbeiter in Rente gehen. Wenn wegen des Fachkräftemangels nicht zeitnah nachbesetzt werden kann, dann will BonnOrange auch weiter Rentner zurück an den Arbeitsplatz holen. "Nach diesem gelungenen Experiment gehört das jetzt auf jeden Fall zu unserem Werkzeugkasten", so Lefèvre. 

Doppeltes Einkommen als Anreiz

Auch Egon Wittersheim profitiert. Neben seiner Rente hat er zusätzlich das volle Gehalt. Für Frührentner ist zu Jahresbeginn die Hinzuverdienstgrenze weggefallen. Das heißt, die Rente wird nicht mehr gekürzt, wenn ein Gehalt von 6.300 Euro im Jahr überschritten wird.

Das doppelte Einkommen aus Rente und Gehalt soll ein Anreiz sein. Die Bundesregierung hat mit der Reform anerkannt, dass Rentner auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden.

Mehrheit der arbeitenden Rentner mit Minijob

Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner in Deutschland, die weiter arbeiten gehen, nimmt zu. Laut Bundesarbeitsministerium sind aktuell bundesweit 1.123.000 Erwerbstätige älter als 67 Jahre. Ende 2022 waren es noch 56.000 weniger. Die große Mehrheit geht einem 520-Euro-Minijob nach.

Einige nutzen das, um den Übergang vom Arbeits- ins Rentenleben flexibel zu gestalten. Bernd Lohmüller von der Agentur für Arbeit in Bonn kennt solche Fälle. "Aber es gibt auf der anderen Seite auch die Rentner, die das Geld brauchen und aus der Not heraus weiterarbeiten", sagt er.

Niedriglohnsektor heißt kleine Rente

So geht es auch Wolfgang Dahl. Der gelernte Dachdecker und Schlosser konnte aus gesundheitlichen Gründen irgendwann nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Danach ist er in den Niedriglohnsektor abgerutscht. Trotz 48 Arbeitsjahren bekommt er deswegen eine kleine Rente in Höhe von 1.200 Euro. "Wäre ich alleine und könnte nicht mit meiner Partnerin zusammenlegen, müsste ich aufstocken mit Sozialhilfe."

Die Miete für die 66-Quadratmeter-Wohnung in Münster und die mittlerweile hohen Lebensmittelpreise fressen das gemeinsam verfügbare Geld auf. Der 69-Jährige nimmt deswegen immer wieder Rentnerjobs an. Zuletzt hat er in einem Unternehmen dreimal in der Woche für sieben Stunden Medizinprodukte verpackt. Von den 25 Angestellten dort waren vier Rentner, berichtet er.

Was sagt der Arzt?

Auch seine Frau, 70 Jahre alt, geht weiterhin arbeiten. Beide haben noch Verbindlichkeiten, die abbezahlt werden müssen. "Erst danach werden wir unsere Arbeitstätigkeit zurückfahren. Auch wenn wir dann bescheidener leben müssen", sagt Dahl.

Kraftfahrer Wittersheim wird nach den sechs Monaten nicht noch einmal aushelfen. Sein Arzt hat ihm davon abgeraten. "Wenn ich nicht so lange sitzen würde auf dem schaukelnden Bock, dann hätte ich bestimmte Beschwerden nicht, hat der Arzt gesagt. Dann sollte man da auch drauf hören."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR Fernsehen in der Sendung "mehr/wert" am 30. März 2023 um 19:00 Uhr.