Straßenbahn auf dem Leipziger Augustusplatz.

Deutsche Wirtschaft in der Krise Wenn von 260 geplanten S-Bahnen 257 ausfallen

Stand: 11.08.2023 17:12 Uhr

Auch Verkehrsbetriebe leiden zunehmend unter Fachkräftemangel. In Leipzig fallen daher immer mehr S-Bahnen ersatzlos aus. Pendler können sich kaum auf pünktliche Fahrten verlassen.

Von Sophia Spyropoulos, Nastassja von der Weiden und Felix Wellisch, mdr

"Der Zug fällt wegen Personalmangel aus. Wir bitten um Ihr Verständnis." Diese Durchsage kennen Reisende der Deutschen Bahn und im öffentlichen Nahverkehr nur zu gut. Für die S10, die vom Leipziger Hauptbahnhof bis in den westlich gelegenen Stadtteil Grünau fährt - oder fahren sollte -, kommt diese Durchsage derzeit mehrmals täglich. In der dritten Juliwoche fanden auf der Strecke drei von 260 Fahrten statt. Das macht 257 Ausfälle.

Das sei aber nicht die Regel, betont der Zweckverband für den Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL). Dessen Vorsitzender und Landrat im Kreis Nordsachsen, Kai Emanuel, sagt, man habe die S10 als Verdichtung nach Grünau erst nachträglich bestellt: "Und genau diese Nachbestellung löst eben die entsprechenden Probleme bei der Deutschen Bahn aus."

Die DB Regio befährt die Strecke im Auftrag des Zweckverbands und will sich nicht zu den Ausfällen äußern. Ihrem Auftraggeber gegenüber nennt sie aber ein bekanntes Problem als Grund: Personalprobleme. Der Verband könne wenig Einfluss auf den Betrieb nehmen, sagt Emanuel. Und ein anderes Unternehmen zu beauftragen sei nicht so einfach.

Ohne Personal im Stellwerk fährt kein Zug

Der Flaschenhals eines funktionierenden Netzes ist das Stellwerk. Wenn es hier hakt, also an dieser wichtigen Schaltstelle Personal fehlt, hat das Auswirkungen auf den gesamten Zugverkehr. Beim DB-Netz im Raum südlich von Halle ist das der Fall. Der Sprecher des Fahrgastverbands "ProBahn" für diese Region, Carsten Schulze-Griesbach, erklärt: "Dort sind viele Stellwerke nicht besetzt. Und ohne Stellwerke kann kein einziger Zug fahren, da fallen natürlich alle Züge aus."

Dieser Notstand herrscht bundesweit, Halle ist keine Ausnahme. Teil des Problems sind veraltete, mancherorts sogar noch mechanische Stellwerke, die nur von speziell geschultem Fachpersonal bedient werden können. Und: Die Beschäftigten können nicht einfach zwischen den Stellwerken hin- und herwechseln, da die Ausbildung streckenspezifisch ist.

Jede zehnte Tramfahrt wird eingespart

Der Fachkräftemangel ist bei der Weiterfahrt mit der Tram innerhalb von Leipzig genauso spürbar: "Wir sind ungefähr bei 90 Prozent der Leistung, die wir eigentlich fahren sollten. Zehn Prozent haben wir in Randzeiten eingespart. Das heißt, es werden vor allem die Menschen merken, die am späten Abend oder in der Nacht unterwegs sind", sagt der Sprecher der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB), Marc Backhaus.

Die LVB wolle dieses Jahr eigentlich 160 Kolleginnen und Kollegen neu einstellen, sagt Backhaus. Noch nicht mal die Hälfte sei geschafft. Der Kampf um Arbeitskräfte werde sich auch in den kommenden Jahren nicht entspannen, schätzt er.

Denn Fahrerinnen, Fahrer, aber auch Verstärkung bei der Wartung der Bahnen werden nicht nur in Leipzig gesucht. Von den aktuell rund 152.000 Beschäftigten der Unternehmen im ÖPNV, die im Verband Deutscher Verkehrsbetriebe Mitglied sind, werden 80.000 Beschäftigte bis 2030 in den Ruhestand gehen. Es werden also 50 Prozent neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Deutschland benötigt, um den jetzigen Stand an Fahrten zu halten.  

Zu viele Alte, zu wenig Junge

Damit ist der ÖPNV kein Sonderfall: Es fehlen - über alle Berufe hinweg - bundesweit rund 630.000 Fachkräfte. Das Problem des Fachkräftemangels durch die Überalterung der Gesellschaft lasse sich nicht mehr lösen, nur noch abmildern, sagen Experten wie Reint Gropp vom Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle: "Wir können Maßnahmen ergreifen und zum Beispiel die Einwanderung von Fachkräften erleichtern."

Darüber hinaus könne man die Beteiligung von Frauen und auch älteren Personen am Arbeitsmarkt erhöhen - aber trotz all dieser Bemühungen werde der Arbeitsmarkt schrumpfen, sagt Gropp. In Leipzig hofft LVB-Sprecher Backhaus vor allem auf eins: Mehr Zuwanderung, um Fahrerinnen und Fahrer auszubilden und die Schichten, auch in der Nacht, wieder besetzen zu können.