Europäischer Stabilitätsmechanismus So funktioniert der Rettungsschirm ESM

Stand: 02.03.2018 07:55 Uhr

Als Konsequenz aus der Schuldenkrise haben die Euro-Staaten einen dauerhaften Krisenmechanismus in Kraft gesetzt. Der neue Rettungsschirm ESM löst den Vorgänger EFSF ab. Er ist anders aufgebaut und verfügt über mehr Möglichkeiten. Wie genau kann er verschuldeten Staaten helfen und woher kommt das Geld für die Hilfen? tagesschau.de beantwortet die wichtigsten Fragen.

Von David Rose, tagesschau.de

Was ist der ESM?

ESM steht als Abkürzung für "Europäischer Stabilitätsmechanismus". Das ist eine internationale Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg. Die damals 17 Mitgliedsstaaten der Eurozone gründeten den ESM durch einen Vertrag, der am 2. Februar 2012 unterzeichnet wurde. Er trat im Oktober 2012 in Kraft. Der ESM löste den alten Euro-Rettungsschirm EFSF (European Financial Stability Facility) ab, der 2013 auslief. Der neue Stabilitätsmechanismus dient dem Ziel, Staaten der Eurozone zu unterstützen, die mit großen Finanzproblemen kämpfen. Das soll auch die Eurozone als Ganzes stabilisieren.

Wie kann der ESM helfen?

Der ESM-Vertrag sieht derzeit sechs mögliche Varianten von Stabilisierungshilfen vor. Wie bereits der Vorgänger EFSF kann auch der ESM direkte Kredithilfen gewähren. Zusätzlich ist die Möglichkeit vorgesehen, Länder vorsorglich zu stützen. Ihnen kann eine Kreditlinie gewährt werden. Sie können bei Bedarf Geld innerhalb des vereinbarten Rahmens abrufen. Die Staaten müssen davon aber keinen Gebrauch machen. Denn faktisch soll dieses Mittel vor allem das Vertrauen der Investoren in Länder stärken, die relativ solide haushalten und über eine starke Wirtschaft verfügen.

Als dritte Option kann der ESM Kredite gewähren, die nicht die Staatsfinanzen stabilisieren, sondern den Banken des jeweiligen Landes zugute kommen sollen. In diesen Fällen bekommt der jeweilige Staat ein ESM-Darlehen, um seinerseits den Geldhäusern Kapitalhilfen gewähren zu können. Im Dezember 2014 wurden als weitere Möglichkeit direkte Kapitalhilfen für Banken eingeführt. Dieses Instrument ist aber nur als letzter Ausweg zulässig, wenn ein Beitrag der Eigentümer und Gläubiger der Bank nicht reicht und der entsprechende Euro-Staat nicht in der Lage ist, die Kapitalhilfen selbst zu stemmen (selbst unter Zuhilfenahme von ESM-Hilfen). Das kann der Fall sein, wenn ein Staat selbst massive Finanzprobleme bekommt, weil er Banken mit Kapitalspritzen versorgen muss.

Die letzten beiden möglichen Hilfsmaßnahmen betreffen den Aufkauf von Staatsanleihen. Einerseits darf der ESM Papiere von Euro-Ländern erwerben, wenn diese neu ausgegeben werden (Primärmarkt). Neben anderen Investoren tritt der ESM damit als normaler Käufer auf und erhöht die Nachfrage. Das wiederum soll die Zinsen drücken, zu denen sich hoch verschuldete Länder auf dem Kapitalmarkt Geld leihen können. Der ESM darf zusätzlich auch bereits ausgegebene Staatsanleihen kaufen, die an den Märkten gehandelt werden (Sekundärmarkt).

Unter welchen Voraussetzungen sind Hilfen möglich?

Grundsätzlich können nur ESM-Mitglieder und damit die Länder der Eurozone Unterstützung beantragen. Der ESM-Vertrag legt fest, dass Hilfen nur gewährt werden dürfen, wenn diese "zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedsstaaten unabdingbar" sind. Bevor die Regierungen der Eurozone im sogenannten ESM-Gouverneursrat darüber entscheiden, ist eine Bewertung durch die Europäische Zentralbank vorgeschrieben. Diese muss prüfen, ob tatsächlich eine Gefahr für die Finanzstabilität der Eurozone oder ihrer Mitgliedsstaaten besteht, ob die Staatsverschuldung des Antragstellers tragfähig ist und wie viel Geld das Land tatsächlich benötigt.

Eine weitere Bedingung setzte Deutschland auf dem EU-Gipfel im Dezember 2011 durch. Dabei geht es um den direkten Zusammenhang zwischen ESM-Hilfen und dem sogenannten Fiskalpakt, der unter anderem die Einführung von Schuldenbremsen vorschreibt. Nur jene Euro-Staaten dürfen auf Unterstützung durch den ESM hoffen, die den Fiskalpakt ratifiziert haben und sich an dessen Vorgaben halten.

Sind die Hilfen mit Auflagen verbunden?

Ja. Wer um Unterstützung des ESM bittet, muss dafür Gegenleistungen erbringen. Allgemein gilt: je größer die Hilfe, desto härter die Auflagen. Vor allem mit direkten Kredithilfen werden in der Regel Forderungen nach Strukturreformen und Sparprogrammen verknüpft sein. Welche Schritte das jeweilige Land einleiten muss, wird in einem "Memorandum of Understanding" detailliert festgehalten, das beide Seiten miteinander aushandeln.

Müssen auch private Investoren im Krisenfall einspringen?

Im Gegensatz zum alten Euro-Rettungsschirm EFSF ist beim dauerhaften Krisenmechanismus ESM eine mögliche Beteiligung privater Anleger an den Rettungskosten vorgesehen. Dies soll laut Vertragstext aber nur in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden. Letztlich greift diese Möglichkeit nur in dem für unwahrscheinlich gehaltenen Fall, dass ein Euro-Land vor der Insolvenz steht. Dann muss der Mitgliedsstaat mit den Gläubigern einen Plan aushandeln, wie die Schulden umgeschichtet oder neu strukturiert werden sollen.

Um sich von vornherein die Tür für solche Umschuldungen offen zu halten, müssen seit 2013 neu ausgegebene Staatsanleihen der Euro-Länder eine Standardklausel enthalten. Diese sogenannten "Collective Action Clauses" (CAC) regeln das Verfahren einer möglichen Umschuldung. Sie verhindern, dass einzelne Gläubiger eine Einigung in Verhandlungen über neue Zahlungsbedingungen blockieren.

Wer entscheidet über die Hilfsmaßnahmen?

Auf Antrag eines Euro-Staates können die Regierungen der 19 Länder der Eurozone Hilfen freigeben. Die Entscheidung darüber trifft der ESM-Gouverneursrat, in dem jede Regierung normalerweise durch den Finanzminister vertreten ist. In der Regel müssen diese Entscheidungen einstimmig fallen, in besonders eilbedürftigen Verfahren reicht auch eine Mehrheit von 85 Prozent der Stimmen. Dabei gilt aber nicht das Prinzip "Ein Land, eine Stimme". Vielmehr haben die Stimmen der einzelnen Staaten unterschiedliches Gewicht. Wer dem ESM mehr Kapital zur Verfügung stellt, hat dabei auch mehr Einfluss auf die Entscheidungen. Deutschland ist der wichtigste Geldgeber. Gegen den Willen der Bundesregierung können faktisch keine Hilfszusagen gemacht werden.

Wie viel Geld steht dem ESM zur Verfügung?

Der ESM verfügt über ein Stammkapital von nahezu 705 Milliarden Euro. Mehr als 80 Milliarden Euro davon flossen zur Bildung eines Kapitalstocks in den ersten Jahren von den Mitgliedsstaaten an den ESM. Weitere gut 624 Milliarden Euro gelten als "abrufbares Kapital". Es handelt sich um eine Art stille Reserve, auf die im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann. Die Euro-Staaten können sich darauf einigen, dieses Geld auch tatsächlich in Teilen oder komplett für Hilfsmaßnahmen abzurufen. Das Stammkapital versetzt den ESM in die Lage, Kredithilfen von bis zu 500 Milliarden Euro zu gewähren. Ob diese Summe ausreicht, soll regelmäßig durch die Regierungen gemeinsam im ESM-Gouverneursrat überprüft werden.

Woher stammt das Geld?

Die Euro-Staaten stellten das Stammkapital bereit. In fünf Raten, von denen 2012 und 2013 jeweils zwei überwiesen wurden und im April 2014 die letzte folgte, zahlten sie zunächst rund 80,6 Milliarden Euro ein. Das restliche Kapital steht nur auf Abruf bereit und müsste erst nach einem gemeinsamen Beschluss tatsächlich an den ESM überwiesen werden. Wieviel jedes Land zahlt, richtet sich nach seinem Anteil am Kapital der Europäischen Zentralbank. Deutschland steuert etwa 27 Prozent des Geldes bei. Die Bundesrepublik musste somit für den Aufbau des Kapitalstocks zunächst fast 22 Milliarden Euro an den ESM überweisen. Das abrufbare Kapital aus Deutschland summiert sich auf weitere 168 Milliarden Euro.

Um die Hilfsmaßnahmen zu finanzieren, leiht sich der ESM aber in erster Linie selbst Geld auf den Kapitalmärkten. Das Stammkapital dient der Absicherung dieser Geschäfte und soll dazu beitragen, günstig an Geld zu kommen und von den Ratingagenturen die beste Bonitätsnote "AAA" zu erhalten. Dass der ESM selbst über Kapital verfügt, ist ein zentraler Unterschied zum EFSF. Dieser konnte lediglich auf Garantien der Euro-Staaten zurückgreifen, wenn er sich an Kapitalmärkten Geld lieh, bekam aber kein Kapital von den Mitgliedsstaaten für seine Arbeit.

Aufteilung des ESM-Stammkapitals
Eingezahltes Kapital Abrufbares Kapital
Deutschland 21,72 Mrd. Euro 168,30 Mrd. Euro
Frankreich 16,31 Mrd. Euro 126,39 Mrd. Euro
Italien 14,33 Mrd. Euro 111,06 Mrd. Euro
Spanien 9,52 Mrd. Euro 73,80 Mrd. Euro
Niederlande 4,57 Mrd. Euro 35,45 Mrd. Euro
Belgien 2,78 Mrd. Euro 21,56 Mrd. Euro
Griechenland 2,25 Mrd. Euro 17,46 Mrd. Euro
Österreich 2,23 Mrd. Euro 17,26 Mrd. Euro
Portugal 2,01 Mrd. Euro 15,56 Mrd. Euro
Finnland 1,44 Mrd. Euro 11,14 Mrd. Euro
Irland 1,27 Mrd. Euro 9,87 Mrd. Euro
Slowakei 0,66 Mrd. Euro 5,11 Mrd. Euro
Slowenien 0,34 Mrd. Euro 2,65 Mrd. Euro
Litauen 0,33 Mrd. Euro 2,53 Mrd. Euro
Lettland 0,22 Mrd. Euro 1,71 Mrd. Euro
Luxemburg 0,20 Mrd. Euro 1,55 Mrd. Euro
Zypern 0,16 Mrd. Euro 1,22 Mrd. Euro
Estland 0,15 Mrd. Euro 1,15 Mrd. Euro
Malta 0,06 Mrd. Euro 0,45 Mrd. Euro
GESAMT 80,55 Mrd. Euro 624,25 Mrd. Euro

Mit wie viel Geld haftet Deutschland maximal?

Die Obergrenze der deutschen Haftung ergibt sich aus den Angaben zum Stammkapital im Anhang des ESM-Vertrags und summiert sich auf etwa 190 Milliarden Euro. "Die Haftung eines jedes ESM-Mitglieds bleibt unter allen Umständen auf seinen Anteil am genehmigten Stammkapital zum Ausgabekurs begrenzt", stellt dazu Artikel 8 des Vertrags ausdrücklich klar. Das Bundesverfassungsgericht betonte in seiner Entscheidung vom 12. September 2012 ausdrücklich, dass Deutschland bei der Ratifizierung sicherstellen muss, dass diese Haftungsgrenze nicht ohne ausdrückliche Zustimmung des Bundestags erhöht werden kann. Dies soll auch verhindern, dass das Budgetrecht des Bundestags durch eine mögliche Hintertür in Artikel 25 des ESM-Vertrags ausgehöhlt wird. Dort ist geregelt, dass beim Zahlungsausfall einzelner Mitglieder die anderen ESM-Staaten das fehlende Kapital beisteuern müssen - ohne dass dabei eine ausdrückliche Obergrenze festgelegt wird.

Was ändert sich im EU-Vertrag?

Parallel zur Einführung des ESM wurde Artikel 136 des Vertrags von Lissabon ergänzt. Zwei eingefügte Sätze verankerten dort den neuen Krisenmechanismus: "Die Mitgliedsstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen."

Kann der ESM-Vertrag nachträglich geändert werden?

Ja. Hilfsinstrumente des ESM dürfen laut Artikel 19 des Vertrags jederzeit geändert werden. Das gilt zum Beispiel für die Einführung direkter Kapitalhilfen an die Banken, wie sie laut einem Beschluss der Euro-Staaten beim Gipfel am 28./29.Juni 2012 mittelfristig möglich werden sollten - dieses neue Hilfsmittel wurde schließlich am 8. Dezember 2014 durch einen Beschluss des ESM-Gouverneursrates neu in die Liste möglicher Instrumente aufgenommen. Voraussetzung für solche Änderungen ist die Zustimmung aller Mitglieder des ESM-Gouverneursrates, in dem die Regierungen aller Unterzeichnerstaaten vertreten sind. Bevor die Bundesregierung im Namen Deutschlands solchen Änderungen zustimmen kann, muss sie aber vorher den Gesetzgeber fragen. Das ist im deutschen Gesetz zur Ratifizierung des ESM-Vertrags ausdrücklich festgelegt. Ohne einen Mehrheitsbeschluss des Bundestages können somit keine neuen ESM-Hilfsinstrumente eingeführt werden.

Der ESM-Vertrag sieht zudem ausdrücklich vor, dass der Gouverneursrat mindestens alle fünf Jahre prüft, ob das ursprüngliche Stammkapital ausreicht oder aufgestockt werden muss. Der Gouverneursrat und damit die beteiligten Regierungen können beschließen, dem ESM mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Auch einem solchen Schritt dürfte die Bundesregierung nur zustimmen, wenn der Bundestag dies in Form eines Gesetzes ausdrücklich genehmigt.

Hat die Entscheidung des Verfassungsgerichts 2012 den ESM verändert?

Nein. Der ESM-Vertrag konnte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom September 2012 in seiner ursprünglichen Form in Kraft treten. Die Richter entschieden aber, dass Deutschland bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde völkerrechtlich verbindlich klarstellen musste, dass es sich nur bei einer bestimmten Auslegung des Textes an den Vertrag gebunden fühlt. Dies betrifft einerseits die Einhaltung der absoluten Obergrenze der deutschen Haftung, die nicht ohne Zustimmung des Bundestags angehoben werden dürfe. Andererseits beziehen sich die geforderten Vorbehalte auf die umfassenden Informationsrechte von Bundestag und Bundesrat. Diese dürfen laut Urteil nicht durch die Schweigepflicht der ESM-Mitarbeiter und die Unverletzlichkeit der ESM-Unterlagen beschränkt werden.

Welche Hilfen hat der ESM bislang gewährt?

Bislang wurden drei Rettungsprogramme unter dem Dach des ESM gestartet: Spanien erhielt zum Zwecke der Stabilisierung seiner Banken insgesamt 41,3 Milliarden Euro. Das 2012 begonnene Programm endete planmäßig im Jahr 2014. Im Rahmen des 2013 angelaufenen Programms für Zypern flossen 7,3 Milliarden Euro an Hilfskrediten. Das Land verließ den Rettungsschirm wie vorgesehen im März 2016. Im Sommer 2015 wurde zudem das dritte Hilfsprogramm für Griechenland bewilligt - das erste, das nach den Regeln des ESM organisiert ist. Die Hilfszusagen summieren sich auf bis zu 86 Milliarden Euro. Das Programm läuft im August 2018 aus.