Merkel räumt Fehler ein Der neue Ton der Kanzlerin

Stand: 19.09.2016 20:34 Uhr

Wir schaffen das? Eine Leerformel. 2015? Darf sich nicht wiederholen. Die Realpolitikerin Angela Merkel verändert ihre Tonlage und justiert ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik neu. Nach einer Serie verlorener Landtagswahlen und einer Union vor der Spaltung reicht Merkel ihren Kritikern die Hand.

Von Wenke Börnsen, tagesschau.de

Vor gut einem Jahr, am 7. Oktober, saß Angela Merkel bei Anne Will in der Talkshow. Die Kanzlerin und CDU-Chefin, nicht als regelmäßige Talkshow-Gängerin bekannt, stellte sich eine Stunde lang den Fragen Wills zur Flüchtlingspolitik. Danach schien klar: Merkel hat sich festgelegt. Sie steht mit ihrem "Wir schaffen das" im Wort. Sie muss durchhalten und Kurs halten - oder andere werden sie scheitern lassen. Sie verantwortet den Kurs selbst, den sie vorgegeben hat. Kein Minister ist schuld, wenn es schief geht. Soviel Risiko war wohl noch nie in Merkels gut zehn Kanzlerjahren. Dachte man.

"Wenn ich könnte, ..."

Und heute, eine ganze Serie von verlorenen Landtagswahlen später? Die "Wir-schaffen-das-Kanzlerin" vom vergangenen Jahr will ihren Satz am liebsten gar nicht mehr wiederholen. Schon viel zu oft habe sie ihn wiederholt, er sei zu einer Leerformel geworden. Und sie räumt Fehler ein. 2015 dürfe sich nicht wiederholen. "Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen", sagt sie. Die hohe Anzahl an Flüchtlingen habe die Regierung "eher unvorbereitet" getroffen, es habe eine Phase des "in Teilen zunächst unkontrollierten und unregistrierten Zuzugs gegeben".

Das ist neu. Bislang hatte Merkel Vorwürfe eines Kontrollverlustes immer zurückgewiesen. Auch sonst ist die Tonlage der Kanzlerin eine andere. Merkel nimmt eine verbale Neupositionierung vor - deutlich hörbar in dieser Nach-Wahldebakel-Pressekonferenz. Nicht mehr das "Weiter so" und "Ich habe alles richtig gemacht" ist der Schwerpunkt, wie es bei ihrer Erklärung zum Wahldebakel vor zwei Wochen in Mecklenburg-Vorpommern der Fall war. Diesmal wählt sie eine härtere Sprache, formuliert schärfer, setzt sich ein Stück weit ab von ihrem eigenen Kurs - einen Kurs, den viele im vergangenen Jahr für festgelegt hielten.

Nun ist Merkel Realpolitikerin genug, um sich flexibel an veränderte Situationen anpassen zu können, ohne darüber große Worte zu verlieren. Insofern war vermutlich die Erwartung im vergangenen Jahr naiv - gerade Merkel, die Pragmatikerin, die sich in ihrer langen politischen Karriere nie festlegte, sollte sich jetzt ausgerechnet in ihrem Kurs in der Flüchtlingspolitik festgelegt haben?

Willkommenskanzlerin? Das war gestern

Nun ist es auch mitnichten so, dass Merkel sich seit ihren Auftritt bei "Anne Will" inhaltlich nicht bewegt habe. Die Willkommenskanzlerin war gestern, Selfies mit Flüchtlingen ebenso. Spätestens nach den Ereignissen in der Silvesternacht in Köln änderten sich Bild und Ton. Es gibt verschärfte Asyl- und Abschiebegesetze, ein Integrationspaket, inklusive Sanktionen für "Integrationsverweigerer", und einen Stopp des Familiennachzugs.

Und nun diese Pressekonferenz. Ist das der "Kniefall der Kanzlerin", den die CSU indirekt seit Monaten fordert? Deutlich wie nie justiert sie ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik neu, deutlich wie nie räumt sie Fehler ein - einzig die CSU-Forderung nach einer Obergrenze für den Zuzug von Flüchtlingen macht sie sich weiterhin nicht zu eigen. Von einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen spricht sie hingegen schon lange.

Ihren Kritikern reicht sie die Hand

Doch auch ohne Obergrenze - Merkel geht deutlich sichtbar auf die CSU zu. Sie ist um eine Entschärfung des Schwesternstreits bemüht, reicht ihren Kritikern die Hand. Drohungen und Verbalattacken aus Bayern erreichen das Kanzleramt immer wieder, doch die Schärfe der vergangenen Wochen war schon bemerkenswert. Auch ein Bruch der Union ist nicht ausgeschlossen. Mit Merkels verbaler Kehrtwende ist die Gefahr ein wenig kleiner geworden.

In München dürfte man die veränderte Tonlage der CDU-Chefin sehr wohl registrieren. "Es wird höchste Zeit, dass wir Gemeinsamkeiten finden, um in der Bundestagswahl zu bestehen", erinnert Seehofer in der "Süddeutschen Zeitung". "So schwierig war die Situation für die Union noch nie." Zugleich lobt er, dass sich Merkel von ihrem "Wir schaffen das" distanziert. Als "eindrucksvoll" bezeichnet Bayerns Innenminister Joachim Herrmann den Auftritt Merkels. Das sei eine "gute Grundlage" für weitere Gespräche, sagt er im nachtmagazin.

Das könnte zumindest ein Anfang sein. Merkel und Seehofer brauchen einander, und das wissen sie auch. Nächstes Jahr ist Bundestagswahl, 2018 wählt Bayern. Die Union war immer gemeinsam am stärksten. Doch die Zeit für eine vorsichtige Versöhnung läuft ab. Anfang November ist CSU-Parteitag, ein Monat später trifft sich die CDU. Und dann entscheidet sich auch Merkels weitere politische Karriereplanung. Lässt sie sich erneut zur CDU-Chefin wählen, tritt sie auch nochmal als Kanzlerkandidatin an. Der heutige Auftritt lässt darauf schließen, dass sie nicht vorhat, die Brocken hinzuwerfen.