Die Schuldenuhr am Gebäude des Bundes der Steuerzahler. (Archivbild: Januar 2022)
Kontext

Deutschlands Staatsverschuldung Warum die Rekordschulden wenig rekordverdächtig sind

Stand: 07.09.2023 11:17 Uhr

Deutschlands Staatsverschuldung befinde sich auf einem Rekordhoch, berichteten viele Medien. Von der reinen Nominalzahl her stimmt das, doch diese ist aus Sicht von Experten wenig aussagekräftig.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Staatsverschuldung steigt auf Rekordhoch", meldeten mehrere Medien Ende Juli unisono. Denn nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) waren Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung Ende 2022 mit 2.368 Milliarden Euro verschuldet - und somit 47,1 Milliarden Euro mehr als noch im Vorjahr.

Wirft man einen Blick noch weiter in die Vergangenheit, erscheint die Staatsverschuldung sogar noch drastischer: Im Jahr 2012 lagen die Schulden insgesamt bei 2.068 Milliarden Euro, also 300 Milliarden weniger. 2002 waren es sogar nur 1.277 Milliarden Euro, fast halb so wenig wie 2022. Hat sich die wirtschaftliche Situation Deutschlands innerhalb von zwanzig Jahren so dramatisch verschlechtert?

Nominalzahl kein geeigneter Faktor

Nein, sagt der Wirtschaftsweise Achim Truger, Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Denn die Nominalzahl sei kein geeigneter Faktor, um die Staatsverschuldung mit vergangenen Werten zu vergleichen. "Im längeren Zeitverlauf wächst die Wirtschaftsleistung eines Landes stetig", sagt Truger. So lag Deutschlands Bruttoinlandsprodukt laut Destatis im Jahr 2002 bei 2.198 Milliarden Euro, 2012 bei 2.745 Milliarden Euro und 2022 bei 3.877 Milliarden Euro.

"Da der Staat mit Steuern und Abgaben auf das nominale Bruttoinlandsprodukt zugreift, wachsen auch die Steuern und die Staatsausgaben über die Jahre", sagt Truger. "Und wenn dann der Staat ein Defizit eingeht, um etwas zu bezahlen, was er durch die Steuern nicht bezahlt bekommt, dann werden natürlich auch diese Beträge nominal immer größer." Das führe zusammen mit der Inflation dazu, dass beinahe jedes Jahr ein neuer Rekordwert bei der nominalen Staatsverschuldung verkündet werden könne.

"Wenn dann Meldungen kommen, dass es einen Rekordschuldenstand gibt, dann denken viele: Oh, die Schulden sind ja unglaublich hoch und das ist vielleicht sogar gefährlich", sagt Truger. Dabei sei die Zahl für sich kaum aussagekräftig. "Für langfristige Vergleiche wird die Staatsverschuldung immer in Relation zur Wirtschaftsleistung gesetzt." Denn nur so könne eine valide Aussage über die finanzielle Entwicklung eines Staats getroffen werden.

Schuldenstandsquote ist gesunken

Darauf verweist auch Martin Beznoska, Senior Economist für Finanz- und Steuerpolitik am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Ein geeigneterer Parameter für die Bewertung der Verschuldungslage eines Landes sei beispielsweise die Schuldenstandsquote. "Die Schuldenstandsquote ist ein besserer Indikator, weil sie die Schulden ins Verhältnis zum Potenzial setzt, das der Staat an Einnahmekraft hat", sagt Beznoska.

Bei der Schuldenstandsquote werden die Staatsschulden mit dem nominalen Bruttoinlandsprodukt ins Verhältnis gesetzt. Für Deutschland betrug die Schuldenstandsquote 2022 66,3 Prozent. Das bedeutet, die Gesamtverschuldung betrug 66,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Im Vergleich zu den beiden Vorjahren hat sich die Schuldenstandsquote in Deutschland damit verbessert: Im Jahr 2020 lag sie bei 68,7 Prozent, 2021 bei 69,3 Prozent. Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie lag sie allerdings noch bei 59,6 Prozent.

"Die Pandemie und der Angriffskrieg auf die Ukraine haben zu zahlreichen schuldenfinanzierten staatlichen Hilfs- und Konjunkturmaßnahmen geführt", sagt Beznoska. Dadurch sei die Schuldenstandsquote infolge dieser Maßnahmen gestiegen. Dass wirtschaftliche Krisen die Schuldenstandsquote in die Höhe treiben, hat auch die Finanzkrise Ende des ersten Jahrzehnts des laufenden Jahrhunderts gezeigt: So lag die Schuldenstandsquote in Deutschland 2010 bei 80,2 Prozent.

Ab wann wird es ein Problem?

Ab welchem Wert die Schuldenstandsquote ein ernsthaftes Problem für ein Land darstellt, ist in der Ökonomik umstritten, sagt Beznoska. Die EU-Mitgliedsstaaten hatten 1997 in den sogenannten Maastricht-Kriterien festgelegt, dass die Schuldenstandsquote nicht mehr als 60 Prozent betragen soll. Dies gelang in den vergangenen Jahren jedoch vielen Mitgliedsstaaten nicht, der EU-weite Durchschnitt lag 2022 bei 84 Prozent.

"Allgemein lässt sich sagen, dass wenn die Schuldenstandsquote über mehrere Jahre hinweg abdrifted, es zu einem Problem wird", sagt Beznoska. Denn dann drohe sich die Verschuldung zu verselbstständigen. "Wenn die Zinsbelastung eines Staatshaushalts immer weiter ansteigt, dann ist das Land irgendwann nur durch die Zinsen bereits im Defizit." Im schlimmsten Falle könne es dann irgendwann zu einer Staatspleite kommen, wenn die Kapitalmärkte nicht mehr daran glaubten, dass der Staat seine Schulden bedienen könne.

In den USA liegt die Schuldenstandsquote bei mehr als 100 Prozent, in Japan sogar bei mehr als 200 Prozent. Dennoch sei bei diesen Ländern die Gefahr einer Staatspleite momentan gering, sagt Truger. Das liege neben der starken Wirtschaft der beiden Länder auch daran, dass die Schulden in Landeswährung sind. Denn dadurch könne mithilfe der Zentralbank zur Not Staatsanleihen gekauft werden, um den Kurs zu stabilisieren. Eine Staatspleite sei dadurch quasi ausgeschlossen.

Anders verhält es sich laut Truger bei Ländern, die in einer Fremdwährung verschuldet sind. Denn diese könnten in Krisenfällen dann möglicherweise die Schulden in Fremdwährung nicht mehr bedienen, weil ihre eigene Währung abgewertet werde. Dadurch hätten deren Zentralbanken keine Möglichkeit, dem entschieden entgegenzuwirken. Griechenland beispielsweise drohte 2010 mit einer Schuldenstandsquote von 143 Prozent der Staatsbankrott.

Weitere Nachhaltigkeitskriterien

Neben der Schuldenstandsquote gibt es noch weitere Nachhaltigkeitskriterien, die für die Bewertung der finanziellen Situation eines Staats herangezogen werden - beispielsweise die Einstufung der Bonität eines Landes oder die Zinslastquote. Diese gibt an, wie viel Prozent seines Gesamthaushalts ein verschuldeter Staat ausgeben muss, um die Zinsen seiner Staatsschulden zu tilgen - in Deutschland waren es 2022 3,2 Prozent. "Die Schuldenstandsquote ist eher ein langfristiger Indikator, die Zinslastquote ein kurz- bis mittelfristiger", sagt Beznoska.

"Wenn ein Staat sehr viele Schulden tilgen muss, dann braucht er schnell sehr viel Geld", sagt Truger. "Und wenn das dann ein sehr hoher Betrag ist und die Zinsen auch noch sehr hoch sind, dann kann ein Staat in Zahlungsschwierigkeiten kommen." Für Deutschland sei dies momentan jedoch kein Problem.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 16. Juni 2023 um 13:56 Uhr.