Die Schatten zweier Männer mit Anzug und Koffer fallen auf eine Straße.
Kontext

Debatte über Steuerverteilung Wer finanziert den Sozialstaat?

Stand: 26.07.2023 10:54 Uhr

15 Millionen Menschen hielten Deutschland am Laufen, heißt es im Netz immer wieder. Die Rede dabei ist von den "Nettosteuerzahlern", die mehr Abgaben zahlen als Leistungen erhalten. Aus Sicht von Experten ist die Zahl jedoch falsch.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"68 Millionen werden schon jetzt von 15 Millionen miternährt, und es werden immer mehr", heißt es auf einem Blog. Bei den 15 Millionen handelt es sich danach um die sogenannten Nettosteuerzahler, die insgesamt mehr Steuern und Abgaben zahlten als sie an staatlichen Transfers und Leistungen bezögen - und den Rest des Landes finanzierten. "Wann wird das Ganze kippen?", fragte sich der Autor bereits im August 2017.

Die Zahl von den mutmaßlich 15 Millionen "Nettosteuerzahlern" hält sich hartnäckig im Netz - zusammen mit alarmierenden Szenarien, dass die Zahl weiter abnehme, in "Richtung Kollaps des Sozialstaates", wie es in einem weiteren Blogeintrag aus dem Jahr 2021 heißt. Aber wie kommt die Zahl überhaupt zustande?

Status ändert sich je nach Lebensphase

Die Zahl der 15 Millionen "Nettosteuerzahler" wird im Netz so begründet: Von den etwa 46 Millionen Erwerbstätigen im Land zahlten 27 Millionen mehr Steuern und Abgaben, als sie staatliche Leistungen erhielten. Davon wiederum seien jedoch zwölf Millionen Menschen "direkt oder indirekt vom Staat abhängig", da sie beispielsweise als Staatsbedienstete von Steuern und Abgaben bezahlt würden. Somit würden letzten Endes 15 Millionen "Nettosteuerzahler" das System am Laufen halten.

Stefan Bach, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Staat beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), hält diese Rechnung aus mehreren Gründen für unvollständig. "Grundsätzlich stehen den staatlichen Steuern und Abgaben natürlich Leistungen gegenüber, ohne die die moderne Volkswirtschaft auch nicht funktionieren kann." Beispielsweise werde mit dem Geld die Infrastruktur bezahlt oder auch die Polizei und die Gerichte.

Sozialbeiträge wie Arbeitslosenversicherung oder Krankenversicherung seien zudem gesondert zu betrachten, da man dafür im Versorgungsfall staatliche Leistungen erhalte. "Hätten wir zum Beispiel die gesetzliche Rentenversicherung nicht, dann müssten die Leute viel stärker privat fürs Alter vorsorgen", sagt Bach. Die Betrachtung der Sozialbeiträge sei ohnehin ein ganz entscheidender Punkt: "Die ganzen Rentnerinnen und Rentner sind der Rechnung nach Leistungsempfänger. Dabei haben sie aber früher entsprechende Sozialbeiträge dafür eingezahlt."

Die Rechnung lasse somit außen vor, dass sich im Verlauf des Lebens der Status vom Nettosteuerzahler und -empfänger mehrmals verändere. Denn neben den etwa 22 Millionen Rentnern und Pensionären in Deutschland gibt es laut Statistischem Bundesamt (Destatis) auch noch 14,25 Millionen Minderjährige, von denen die meisten noch nicht ins Arbeitsleben gestartet sind. "Es kommt ja auch auf die Lebensphase an. Und das ist systematisch so angelegt, dass man nicht immer 'Nettosteuerzahler' sein kann", sagt Bach.

Viele Steuern nicht von Einkommen abhängig

Tobias Hentze, Leiter des Clusters Staat, Steuern und Soziale Sicherung am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), weist zudem darauf hin, dass viele Steuern nicht progressiv - also prozentual vom Einkommen - gezahlt werden. "Anders als bei der Lohnsteuer ist beispielsweise bei der Umsatzsteuer oder der Tabaksteuer nicht die Umverteilung im Vordergrund. Jeder muss gleich viel zahlen, ob Vielverdiener oder Geringverdiener." Diese Steuern seien dadurch regressiv. Das bedeutet, dass die relative Belastung bei geringeren Einkommen höher ist.

Hinzu kämen weitere Steuereinnahmen wie Unternehmenssteuern. Im Jahr 2022 hat der deutsche Staat nach Angaben von Destatis insgesamt 895,7 Milliarden Euro an Steuern eingenommen. 227,2 Milliarden davon entfielen auf die Lohnsteuer, 198,2 Milliarden auf die Umsatzsteuer und 70,24 Milliarden Euro auf die Gewerbesteuer.

Ohnehin sieht Hentze es kritisch, dass erwerbstätige Menschen nicht zu den "Nettosteuerzahlern" zählen sollen, wenn sie mehr Transfers erhalten als sie Steuern zahlen. "Wenn sie in Unternehmen tätig sind und einen Lohn bekommen, dann bedeutet das, dass sie natürlich zur Wertschöpfung dieses Unternehmens beitragen - sonst würden sie den Lohn ja nicht bekommen." Das werde jedoch nicht vollumfänglich abgebildet, weil die Wertschöpfung in die Unternehmensgewinne fließe und nicht den einzelnen Mitarbeitern zugerechnet werde.

Auch dass beispielsweise die rund fünf Millionen Arbeitnehmer, die im Öffentlichen Dienst beschäftigt sind, nicht zu den "Nettosteuerzahlern" gezählt werden könnten, sieht Hentze anders. "Ich sehe aus einer finanzwissenschaftlichen Sicht keinen Grund, da zu unterscheiden. Vom Grundsatz her gibt es aus meiner Sicht keinen Zweifel daran, dass ein Öffentlicher Dienst erforderlich ist für das Funktionieren unseres Staates." Ohne funktionierendes Rechtswesen oder Polizei könne auch der Reichste in diesem Land nicht vernünftig leben.

IW und DIW kommen auf andere Zahlen

Das IW hat bereits im Jahr 2020 eine eigene Studie zu den "Nettosteuerzahlern" in Deutschland veröffentlicht. Dafür wurden die gezahlten Steuern und Sozialabgaben mit den erhaltenen Transferleistungen verrechnet. Das Ergebnis: Gut die Hälfte der deutschen Haushalte ist Nettozahler. Je höher das Haushaltseinkommen, desto höher ist das Saldo: Die reichsten zehn Prozent zahlten demnach 2019 etwa 47.600 Euro mehr Steuern oder Abgaben, als sie an staatlichen Transfers erhielten. Das zweitärmste Zehntel wiederum bekam unterm Strich 6.400 Euro mehr pro Haushalt und damit am meisten.

Bei den Sozialabgaben müsse nach Angaben der Autoren jedoch berücksichtigt werden, dass aufgrund des Äquivalenzprinzips und im Gegensatz zu den Steuern gelte: "je höher der Beitrag, desto höher der Leistungsanspruch". Zudem kommt die Studie zu dem Schluss, dass das Alter eine wichtige Rolle bei der Frage spielt: Der Durchschnittsbürger erhält bis zu einem Alter von 24 Jahren mehr Geld vom Staat, als er ihm überweist. Dann dreht sich das Verhältnis um, in einem Alter von Mitte 50 Jahren sind die Nettozahlungen schließlich am höchsten. Erst im Rentenalter von 65 Jahren wird der Durchschnittsbürger dann wieder zum Nettoempfänger.

Auch das DIW hat bereits 2015 eine eigene Untersuchung zu dem Thema gemacht und kam zu ähnlichen Ergebnissen. Danach sind etwa 55 Prozent der Bevölkerung "Nettosteuerzahler", ohne Beiträge und Leistungen der Sozialversicherungen wären es sogar mehr als 80 Prozent.

Relativ hohe Staatsquote in Deutschland

Grundsätzlich sei es natürlich richtig, darüber zu diskutieren, wie die Abgaben und Leistungen verteilt sind im Land, sagt Bach. "Die entscheidende ökonomische Fragestellung ist Umfang und Struktur der öffentlichen Leistungen und der dafür erforderlichen Finanzierung." Die Staatsquote - das Verhältnis zwischen dem Geld, das der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben ausgibt, und dem, was seine Bürger erwirtschaften - liegt in Deutschland bei knapp unter 50 Prozent und damit im oberen Drittel der EU-Mitgliedsstaaten.

"Steuern und Abgaben haben eine relativ große Bedeutung in Deutschland", sagt Bach. In den USA liegt die Staatsquote beispielsweise bei etwa 40 Prozent. "Das heißt aber dann, dass die staatlichen Leistungen nicht so umfangreich sind und dass man mehr privat vorsorgen muss für die Gesundheit, teilweise auch für das Alter und insbesondere im Bereich Bildung und sonstige soziale Daseinsvorsorge."

"Ich denke, im Kern sind wir bei der Frage: Was ist gerecht?", sagt Hentze. "Ich kann jeden verstehen, der gutes Geld verdient und sagt: 'Mensch, jetzt bekomme ich eine Gehaltserhöhung und die Hälfte oder sogar mehr geht erstmal an den Staat'." Gleichzeitig sei nicht zuletzt bei der Diskussion über das Elterngeld deutlich geworden, dass vom Staat auch viele Leistungen erwartet würden - unabhängig vom Einkommen. "Auch von Menschen, die gutes Geld verdienen, wird vom Staat gefordert: Wir brauchen gute Kitas oder mehr Kitaplätze, wir brauchen gute Schulen, natürlich brauchen wir auch viel bessere Straßen."

"Ich glaube, manchmal geht bei einigen ein bisschen verloren, dass sie auch darauf angewiesen sind, dass der Staat seine Aufgaben erfüllt", sagt Hentze. "Von daher braucht man ein gewisses Maß an Umverteilung. Aber ob der Spitzensteuersatz 39, 42 oder 45 Prozent betragen soll, das ist am Ende Politik."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 01. Januar 2023 um 06:05 Uhr.