Gäste tummeln sich im Becken des Prinzenbads in Berlin Kreuzberg
faktenfinder

Nach Gewalt in Berlin Gibt es mehr Straftaten in Schwimmbädern?

Stand: 24.07.2023 12:18 Uhr

Nach den Vorfällen in Berlin wird medial und politisch viel über Gewalt in Freibädern diskutiert. Eine bundesweite Umfrage des ARD-faktenfinders zeigt jedoch: Die Zahl der Straftaten hat insgesamt nicht zugenommen.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder und Carla Reveland

Gerichtliche Schnellverfahren, Passkontrollen am Eingang: Angesichts der jüngsten Auseinandersetzungen in einem Berliner Schwimmbad werden mögliche Konsequenzen derzeit hitzig debattiert - auch deutschlandweit.

Politiker wie der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagen, die Gewalt gehe oft von jungen Männern mit Migrationshintergrund aus, die AfD fordert härtere Abschieberegelungen. Doch ist die Zahl der Straftaten, die in Schwimmbädern begangen werden, wirklich gestiegen?

Keine bundesweiten Zahlen

Bundesweite Zahlen der angezeigten Straftaten in Schwimmbädern sind aus der Polizeikriminalstatistik (PKS) nicht zu entnehmen, da sie nicht erfasst werden. Eine Anfrage des ARD-faktenfinders an die Innenministerien der 16 Bundesländer ergab, dass 13 Länder Zahlen zu Straftaten für die Örtlichkeit Schwimmbäder und Badestellen vorliegen haben. Allerdings beziehen sich diese Zahlen nicht auf das laufende Jahr, sondern auf die vergangenen, da die Statistiken meist für ein ganzes Jahr herausgegeben werden.

Da sich die Zahlen für das Jahr 2022 pandemiebedingt nur schwer mit den beiden Vorjahren vergleichen lassen, wird 2019 als Referenz herangezogen. Im Vergleich zu diesem Vorpandemiejahr ist die Zahl der Straftaten im Zusammenhang mit Schwimmbädern im Jahr 2022 insgesamt um 14,4 Prozent von 8.304 Fällen auf 7.105 gesunken - zumindest in den Bundesländern, die die Zahl gesondert erfassen. Insgesamt antworteten 13 Bundesländer, dass sie keinen Anstieg an Straftaten feststellen können, in zehn davon ist die Zahl gesunken.

Jedoch sind in einigen Bundesländern mehr Gewalttaten registriert worden - diese Zahlen werden nur von acht Ländern überhaupt ausgewiesen. Zudem gab es im Jahr 2019 auch etwa elf Prozent mehr Badegäste in den deutschen Freibädern als im Jahr 2022, sagt der Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen (DGfdB), Christian Mankel. Seinen Angaben zufolge finden Ausschreitungen nur an einigen wenigen der bundesweit insgesamt mehr als 2800 Freibäder statt. "In einem überwiegenden Großteil der Freibäder geht es also die gesamte Saison über friedlich zu."

Rückgang der Straftaten in Berlin und NRW

In Berlin ist die Zahl der registrierten Straftaten in Schwimmbädern im Jahr 2022 im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie auf 285 gesunken. Im Jahr 2019 waren es noch 358, 2013 sogar 512. Auch die Zahl der registrierten Gewalttaten lag 2022 unter den Werten von 2019.

Auch im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen sank sowohl die Anzahl der Straftaten insgesamt als auch die Zahl der Straftaten im Bereich der Gewaltkriminalität in Freibädern im Vergleich zum Jahr 2019. "Grundsätzlich sind Bäder in Nordrhein-Westfalen sichere Orte. Öffentlichkeitswirksame Schlägereien sind weiterhin eine Ausnahme", teilt ein Sprecher des Innenministeriums mit.

In Brandenburg wurden 2022 ebenfalls weniger Straftaten und Fälle von Gewaltkriminalität in Freibädern und Schwimmhallen registriert. Für das erste Halbjahr 2023 verzeichnet Brandenburg nach Angaben der Polizei einen weiteren Rückgang von Straftaten, allerdings können diese noch Veränderungen unterliegen.

Mehr Gewaltdelikte in einigen Ländern

In Baden-Württemberg und Bayern wurden im Jahr 2022 zum Teil deutlich weniger Straftaten registriert als im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie. In Baden-Württemberg waren die Werte 2022 - die Pandemie-Jahre ausgenommen - auf dem tiefsten Wert der letzten zehn Jahre. Allerdings gab es in Baden-Württemberg bei den Rohheitsdelikten wie Raub, Bedrohung oder Körperverletzung 2022 einen Anstieg von 41 Fällen.

Laut dem baden-württembergischen Innenministerium zeichnet sich für das erste Halbjahr 2023 ein Anstieg der Gesamtstraftaten sowie unter anderem der Gewalt- und Aggressionsdelikte ab. Allerdings schreibt das Ministerium, dass eine Bewertung zu dem Zeitpunkt nur "eingeschränkt möglich" ist.

In Bayern stieg die Zahl der Gewaltkriminalität 2022 von 33 auf 47 Fälle an, bleibt jedoch im niedrigen Bereich. Das bayerische Innenministerium teilt dazu mit: "Wenngleich vereinzelt Gewaltdelikte begangen werden, sind diese in Anzahl und Ausmaß keinesfalls mit den Geschehnissen in anderen Bundesländern zu vergleichen."

In Hamburg teilt die städtische Betreibergesellschaft für öffentliche Schwimmbäder ebenfalls mit, dass es keine derartigen Vorfälle wie in Berlin gibt. "Wir stellen auch keine besondere Häufung von Straftaten oder Fehlverhalten unserer Gäste fest." Im Jahr 2022 registrierte die Polizei weniger Straftaten als in den Vorpandemiejahren, einzig die Rohheitsdelikte stiegen um 17 Fälle auf insgesamt 48 Fälle an.

In Hessen sank die Zahl der Straftaten 2022 im Vergleich zu 2019 insgesamt von 597 auf 516 erfasste Fälle, bei den Rohheitsdelikten wurde wiederum ein Anstieg von 68 auf 75 Fälle registriert.

Leichter Anstieg in Niedersachsen und Schleswig-Holstein

In Rheinland-Pfalz und im Saarland liegen die Zahlen der registrierten Straftaten im Jahr 2022 ebenfalls unter denen der Jahre vor der Pandemie - allerdings stiegen hier die Zahlen der Gewaltdelikte in Schwimmbädern. Für das erste Halbjahr 2023 ist in Rheinland-Pfalz nach Polizeiangaben bislang ein gegenläufiger Trend zu erkennen: Die Zahl der Straftaten insgesamt liegt etwas höher als im Vorjahreszeitraum, dafür gab es weniger Gewaltdelikte.

In Niedersachsen wurde 2022 im Vergleich zu 2019 ein leichter Anstieg der Straftaten registriert - ebenso wie in Schleswig-Holstein, das zudem mehr Gewaltdelikte verzeichnete. In Sachsen-Anhalt liegen die Zahlen nur von 2019 bis zum ersten Halbjahr 2022 vor, weshalb ein Vergleich nur bedingt aussagekräftig ist. In Mecklenburg-Vorpommern werden die Zahlen erst seit 2020 erhoben - damals waren es trotz Pandemie etwas mehr erfasste Straftaten und Gewaltdelikte als 2022.

Laut Polizei kein Anstieg in Thüringen und Bremen

Für die anderen Bundesländer liegen keine Zahlen vor. Die Polizei in Thüringen teilte mit, dass es "vereinzelt" zu Straftaten wie Diebstahl, Hausfriedensbruch und Körperverletzung kommt. "Deren Häufigkeit bewegt sich jedoch in einem Rahmen, der für öffentlich zugängliche Orte üblich ist. Ein Anstieg von Straftaten, vor allem von Gewalttaten, wie in anderen Bundesländern, liegt nicht vor."

Auch in Bremen und Sachsen wird die Zahl der Straftaten in Schwimmbädern nicht gesondert erhoben. Die Bremer Polizei schreibt auf Anfrage, dass die bisherige Badesaison ohne große Probleme verläuft. Auch in Bremerhaven ist nach Polizeiangaben kein Anstieg von Straftaten zu verzeichnen.

Jugendgewalt sinkt

Dass es insgesamt offenbar keinen Anstieg an Straftaten in Schwimmbädern gibt, deckt sich nach Angaben von Vincenz Leuschner, Professor für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR), mit der Forschung zur Jugendgewalt. "Insgesamt sehen wir seit Jahren sinkende Fallzahlen mit einzelnen Ausnahmen", sagt er.

In Berlin wird die Jugendgruppengewalt in der PKS sogar als eigenes Phänomen erfasst und ausgewiesen. Im Jahr 2013 wurden noch 2856 Fälle registriert, 2019 waren es 2190. Im vergangenen Jahr lag die Zahl der erfassten Fälle bei 1873.

Dass es in Schwimmbädern überhaupt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt, hat nach der Ansicht von Leuschner mit den Rahmenbedingungen zu tun. "Es ist ein frei zugänglicher Raum. Somit ist es für alle Bevölkerungsgruppen möglich, Schwimmbäder zu besuchen", sagt er. Besonders junge Männer wollten sich in Schwimmbädern oftmals beweisen und den öffentlichen Raum als Bühne nutzen. Hinzu komme, dass Menschen häufig in Gruppen in Schwimmbäder gingen.

"Diese Kombination von Gruppendynamik und Zurschaustellung von Männlichkeit ist eine kriminologische Grundkonstante, bei der man davon ausgehen kann, dass Konflikte oder Probleme wahrscheinlicher werden", sagt Leuschner. Aus der Forschung sei bekannt, dass Gewalt sehr schnell eskaliere, wenn Gruppen involviert seien. Die Gruppendynamik sei eine der wichtigsten Faktoren, die Hemmschwelle zu senken und Gewalt auszuüben. Das sei beispielsweise auch im Zusammenhang mit Fußballspielen zu beobachten.

"Prävention und Repression"

Auch Mankel kann dies bestätigen. Sich hochschaukelnde Gruppendynamiken und Selbstdarstellungsdrang seien oftmals die Auslöser für Gewaltkonflikte. "Beschäftigte in den Bädern leiden unter gesunkener Wertschätzung und fehlendem Respekt bestimmter Gruppen ebenso so sehr wie Beschäftigte in Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten", sagt er. Mitarbeiter des Columbiabads in Berlin hatten sich Mitte Juni in einem Brief an die Leitung der Bäderbetriebe gewandt und "auf das untragbare Ausmaß der Umstände" aufmerksam gemacht. Das bestätigen auch die Berliner Bäder-Betriebe auf ARD-faktenfinder-Anfrage.

Dies sei ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das sich eben auch in Bädern abbilde. Die Lösung der Herausforderungen liegt laut Mankel in der richtigen Mischung aus "Prävention und Repression". Dass führende politische Stimmen in Berlin ein härteres Durchgreifen des Staates fordern, begrüße die DGfdB, "denn ohne die Unterstützung der Politik wird es keine Verbesserung geben".

Von populistischen Forderungen und Pauschalisierungen distanziert sich die DGfdB allerdings klar. "Dies lehnen wir ab, da es der Debatte in der Breite nicht gerecht wird und viele gut integrierte Erfolgsgeschichten vollends außer Acht lässt."

Diskursverschiebung für politische Agendasetzung

Die AfD schreibt zu der Debatte auf Twitter: "Schnellverfahren für Grabscher und Schläger? Freibad-Täter gehören in den Abschiebe-Flieger!" Weiter heißt es: "Die durch die Bank weg zugereisten Straftäter, die in Freibädern und auf der Straße ihr Unwesen treiben, gehören ohne Wenn und Aber abgeschoben." Freibäder seien "Tummelplätze für Gewalttäter".

Screenshot von afdkompakt.de

"Die AfD versucht sich hier am Agenda-Setting und nutzt die Debatte über die Freibäder, um strengere Abschieberegelungen zu erwirken und Ressentiments zu stärken", sagt Josef Holnburger, Geschäftsführer des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS). Es handele sich um eine Diskursverschiebung, um eigene politische Ideologien oder politische Forderungen stärker durchzusetzen - ungeachtet dessen, ob die Faktenlage dies hergebe.

Statt mit tatsächlichen Fakten werde mit gefühlten Wahrheiten gespielt und einzelne tatsächlich stattfindende Fälle zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem erklärt. "Es wird versucht, die Lage aufzubauschen und den Eindruck zu vermitteln, dass es eine konkrete Bedrohung durch vor allem migrantisch gelesene Personen in Schwimmbädern gebe, eben um daraus politisch Kapital schlagen zu können", sagt Holnburger.

Auch andere Akteure versuchen, die Schwimmbad-Debatte für die eigene Agenda zu nutzen. Im rechtsextremen "Compact"-Magazin heißt es zum Beispiel: Das Problem sei eine "ungehinderte Massenmigration". "Und da hilft doch nur eines: Nämlich radikale Remigration, im großen Maßstab einfach diese Leute abschieben, die sich hier nicht benehmen können." Nur, die Polizei werde das nicht lösen können, "weil die ist ja in Berlin komplett verweichlicht".

200 Beiträge pro Tag in einschlägigen Telegram-Kanälen

Die Debatte um die Sicherheit in Freibädern ist nicht neu und wird laut Holnburger insbesondere aus dem rechtspopulistischen bis rechtsextremistischen Milieu seit einigen Jahren jeden Sommer in die Öffentlichkeit getragen. Eine Auswertung des CeMAS zeigt, wie häufig die Begriffe "Schwimmbad" oder "Freibad" in den von CeMAS beobachteten 2820 deutschsprachigen Telegram-Kanälen aus verschwörungsideologischen oder rechtsextremen Kreisen auftauchen. Aktuell befassen sich täglich 200 Beiträge mit dem Thema - 2022 betrug der Spitzenwert 133.

Der Anstieg liege auch daran, dass die Medien in diesem Jahr verstärkt über Fälle von Ausschreitungen in Freibädern berichteten und sich gerade in Berlin viele Politiker dazu geäußert hätten. "Das führt zu einem selbstverstärkendem Effekt. Auch wenn Medien von den Akteuren häufig als Staatsmedien diffamiert werden, zitiert man sie trotzdem gerne, wenn das drin steht, was man gerne hören möchte", so Holnburger.