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Schuldenkrise in Europa Der lange Weg aus der Agonie

Stand: 05.05.2014 13:30 Uhr

Die Schuldenkrise hat Europas Peripherie um ein bis zwei Jahrzehnte zurückgeworfen. Und auch wenn sich die Volkswirtschaften im Süden inzwischen stabilisieren - die Arbeitslosigkeit wird noch lange Zeit exorbitant hoch bleiben.

Von Heinz-Roger Dohms, tagesschau.de

In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober 2012 spielen sich im Ford-Werk der belgischen Stadt Genk dramatische Szenen ab. Hunderte aufgebrachte Arbeiter belagern das Fabrikgelände. Vor dem Werkstor brennt die Karosserie eines halbfertigen Mondeo, den die Protestierer aus der Produktionshalle geschleppt und angezündet haben. Wut und Verzweiflung bestimmen die Szenerie; Bilder von damals zeigen Menschen, die sich weinend in den Armen liegen.

Ein paar Tage zuvor hat das Management des Autokonzerns mitgeteilt, dass es die Fabrik schließen wird. 4500 Menschen verlieren allein bei Ford ihre Arbeit. Rechnet man die Jobs in den umliegenden Zulieferbetrieben hinzu, sind es noch deutlich mehr. Für die Betroffenen, ihre Familien, ja: für die ganze Region bedeuten die Ereignisse eine Katastrophe.

Es klingt darum zynisch, in der Werkschließung von Genk ein Signal für die wirtschaftliche Wende in Südeuropa zu sehen. Nur, Wirtschaft ist eben manchmal zynisch. Ford teilt damals mit, einen Teil der Fertigung aus Ostbelgien ins spanische Valencia verlegen zu wollen. Und das ist nicht alles: Kurz darauf verkündet der Konkurrent Renault, 1300 zusätzliche Mitarbeiter in Spanien einstellen zu wollen. Volkswirte horchen auf: Wird die spanische Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig? Ist der Tiefpunkt der Eurokrise erreicht?

Heute, anderthalb Jahre später, ist die Stabilisierung der südeuropäischen Wirtschaft nicht mehr nur eine vage Hoffnung - sondern Gewissheit. "Die Rezession ist überwunden, dieses und auch nächstes Jahr dürfte es im Süden deutlich aufwärts gehen", sagt Carsten Klude, Chefvolkswirt der Privatbank M.M. Warburg. Seit dem vergangenen Sommer wächst die Wirtschaft in Spanien und Portugal wieder, und selbst Griechenland dürfte den Tiefpunkt erreicht haben.  Im Hinblick auf die Europawahl am 25. Mai ist damit eine erste Bilanz der europäischen Schuldenkrise möglich. Denn die fällt - zufälligerweise - ziemlich exakt zusammen mit der zu Ende gehenden fünfjährigen Wahlperiode.

Wie alles anfing

Zum Zeitpunkt der Europawahl 2009 ist von der "europäischen Schuldenkrise" noch nicht die Rede - wohl aber von der "globalen Finanzkrise". Im Herbst zuvor ist die US-Investmentbank Lehman Brothers pleitegegangen. Es folgen Monate der totalen Unsicherheit. Unternehmen hören auf zu investieren, Verbraucher kaufen nur noch das Nötigste, der globale Handel bricht ein, allein das deutsche Bruttoinlandsprodukt schrumpft 2009 um unglaubliche 5,1 Prozent. Notenbanken und Regierungen beginnen panisch gegenzusteuern. Die einen senken die Zinsen. Und die anderen legen riesige Konjunkturpakete auf - in Deutschland zum Beispiel die Abwrackprämie, die den Autoabsatz wieder ankurbeln soll.

Im Norden Europas wirkt die Medizin. Fast genauso schnell wie die Konjunktur eingebrochen ist, erholt sie sich auch wieder. Exportstarke Volkswirtschaften wie die deutsche profitieren dabei von der wachsenden Nachfrage aus Schwellenländern wie China, die die Finanzkrise weitgehend unbeschadet überstanden haben.

Ganz anders entwickeln sich die Dinge hingegen in der exportschwachen Peripherie Europas: Hier will die Wirtschaft nicht wieder anspringen. Stattdessen beginnen Investoren zu fragen, wie die Länder denn die wachsende Schuldenlast abtragen wollen, die sich aus teuren Konjunkturpaketen und - speziell in Irland und Spanien - noch teureren Bankenrettungen ergeben? Ein böses Akronym beginnt damals die Runde zu machen: PIIGS. Es steht für Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien. Also für die neuen kranken Männer Europas.

Und plötzlich versiegten die Kredite

Plötzlich müssen diese Länder dramatisch höhere Zinsen bezahlen, wenn sie Geld am Kapitalmarkt aufnehmen wollen. Und was für die Regierungen gilt, das gilt in dieser Zeit umso mehr für Unternehmen und Verbraucher: Das Vertrauen schwindet, der Kreditfluss versiegt, die Volkswirtschaften in der Peripherie verfallen in eine jahrelange Agonie.

Das Debakel in Zahlen: In Griechenland stieg die Arbeitslosenquote von Anfang 2009 bis Anfang 2014 von rund neun auf 28 Prozent, in Italien von sieben auf 13 Prozent, in Spanien von 16 auf 26 Prozent und in Portugal von neun auf 15 Prozent. Zum Vergleich, in Deutschland sank sie nach der Berechnungsmethode der internationalen Arbeitsorganisation ILO im gleichen Zeitraum von 7,5 auf fünf Prozent. Tatsächlich liegt die Wirtschaftsleistung in Deutschland schon wieder um zwölf Prozent über dem Niveau vor der Krise. In den Peripheriländern dagegen liegt sie um bis zu 27 Prozent darunter.

"Verwerfungen von historischer Dimension"

"Das sind Verwerfungen von historischer Dimension", sagt Ökonom Klude. Zumal hinter den Zahlen das Schicksal von Millionen Menschen steht, die ihre Arbeit verloren oder überhaupt nie eine richtige Arbeit gefunden haben, weil sie ausgerechnet in den schlimmsten Krisenjahren mit Schule, Ausbildung oder Studium fertig wurden.   

Über die Gründe für den beispiellosen Niedergang haben Ökonomen in den vergangenen Jahren viel gestritten. Natürlich spielten die Exzesse der Banken eine Rolle. Und natürlich haben die harten, von Brüssel, IWF und EZB auferlegten Sparprogramme die Rezession verschärft. Die tieferen Ursachen aber fallen in eine Zeit lange vor der Krise: Durch die Einführung des Euro lagen die Zinsen in Südeuropa jahrelang niedriger, als es wirtschaftlich eigentlich gerechtfertigt gewesen wäre. "Das hat den starken ökonomischen Aufholprozess dieser Länder begünstigt", sagt Klude. Aber: Die günstigen Finanzierungen hätten auch zu schuldenbasierten Übertreibungen geführt, etwa am spanischen Immobilienmarkt.

"Dies wiederum ging einher mit europaweiten wirtschaftlichen Ungleichgewichten", erklärt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Diba. In Portugal zum Beispiel betrug das Leistungsbilanzdefizit 2008 - also im letzten Jahr vor Ausbruch der Krise - rund zwölf Prozent.  Das heißt: Die Portugiesen importierten viel mehr Güter, als sie selbst ins Ausland verkauften, sie lebten also über weit ihre Verhältnisse. "Das konnte auf Dauer nicht gutgehen", sagt Brzeski.  

Der Süden ist jetzt billiger - und exportiert wieder mehr

Aus Sicht vieler Volkswirte war der Rückschlag daher unumgänglich - auch wenn er viel heftiger ausfiel, als selbst Pessimisten das vermutet hätten. Wenn die Krise also etwas Gutes hatte, dann, "dass die Ungleichgewichte sich aufzulösen beginnen", wie Klude sagt. Portugal und Spanien etwa haben 2013 wieder einen Leistungsbilanzüberschuss erwirtschaftet.

Das hat natürlich damit zu tun, dass die Menschen weniger Güter aus dem Ausland nachfragen; wer in der Krise seinen Arbeit verlor, wird sich kaum einen neuen Mercedes leisten können. Aber: Es hat auch damit zu tun, dass die Exporte wegen der gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit langsam wieder zulegen.

Ford und Renault sind zwei Beispiele. Sie fertigen nun verstärkt in Spanien, weil sich die Gewerkschaften hier auf niedrigere Löhne eingelassen haben. Ein anderes Beispiel ist der Tourismus, der 2013 in Spanien boomte. Wer im Sommer gern in den Süden fliegt, weiß aus eigener Erfahrung, warum: Ein Urlaub auf Mallorca ist, in Relation zu Zielen wie der Türkei oder Ägypten, deutlich günstiger als vor ein paar Jahren.

"Die Krisenländer haben sich stabilisiert"

"Die Krisenländer haben sich stabilisiert", meint Brzeski. Doch klar ist auch: Es handelt sich um eine Erholung auf niedrigem Niveau. Brzeski schätzt, dass es noch fünf bis zehn Jahre dauern wird, bis Spanien, Portugal oder gar Griechenland das Vorkrisenniveau erreichen. Speziell die Arbeitslosigkeit dürfte noch auf Jahre hinaus extrem hoch bleiben, zumal neuerliche Rückschläge nicht auszuschließen sind und die Staatsverschuldung in den Ländern Südeuropas noch immer viel zu hoch ist.

Der Weg der Eurozone aus der Krise ist weit. Und das wissen nicht nur die Menschen in Madrid, Lissabon oder Athen. Sondern auch die in Genk.