
Urteil des Verwaltungsgerichts Beim Familiennachzug zählt das Kindeswohl
Stand: 22.12.2017 18:48 Uhr
Beim Familiennachzug für minderjährige Flüchtlinge zählt allein das Kindeswohl. Das urteilte das Berliner Verwaltungsgericht - eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung. Eigentlich wollte sie Berufung einlegen. Doch Außenminister Gabriel entschied nun anders.
Von Arnd Henze, ARD-Hauptstadtstudio
Das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Das Kindeswohl von Bashar sei "erheblich und akut gefährdet". Der inzwischen 16-jährige Flüchtling aus Syrien leide an einer schweren posttraumatischen Störung, eine Stabilisierung sei "nur noch im Rahmen der familiären Gemeinschaft der Kernfamilie" möglich.
Für das Auswärtige Amt ist das Urteil eine schallende Ohrfeige. Denn die fünf Richter begründen ungewöhnlich ausführlich, warum die Behörde im Umgang mit dem Familiennachzug von minderjährigen Flüchtlingen nicht nur gegen das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Kinderrechtskonvention verstößt, sondern auch gegen die Maßstäbe, auf die sich die Bundesregierung selbst verständigt hat.
Härtefallregelung bei Familiennachzug
tagesschau 20:00 Uhr, 22.12.2017, Arnd Henze, ARD Berlin
Ausnahme auf Drängen der SPD
Um die Brisanz zu begreifen, ist ein Rückblick notwendig. Anfang 2016 hatte sich die Große Koalition darauf verständigt, den Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem, also eingeschränktem Schutz für zwei Jahre auszusetzen. Eine Ausnahme sollte auf Drängen der SPD für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gelten.
Recherchen des ARD-Hauptstadtstudios deckten jedoch damals auf, dass auf Grund eines Versehens der SPD-Minister am Ende eine Fassung im Kabinett beschlossen wurde, in der diese Ausnahme für Kinder und Jugendliche fehlte. Nach einem heftigen Koalitionsstreit, in dem der heutige Außenminister Sigmar Gabriel von einem "Gebot der Nächstenliebe" sprach, einigte sich die GroKo auf eine Härtefallregelung. Die SPD verkündete damals erleichtert: "Die Humanität hat sich durchgesetzt."
Odyssee zwischen Behörden
Ende 2016 belegte jedoch eine weitere Recherche des ARD-Hauptstadtstudios, dass diese Härtefallregelung vom zuständigen Auswärtigen Amt niemals umgesetzt wurde. Vormünder von minderjährigen Flüchtlingen schilderten ihre Odyssee zwischen Behörden, die sich unzuständig fühlten oder nicht einmal antworteten. Auch für Thomas Henke, den Betreuer von Bashar, erwies sich die offiziell gültige E-Mailadresse im Ministerium als toter Briefkasten.
Schon bei den damaligen Recherchen war spürbar, wie sehr Bashar unter den Erfahrungen der Flucht und der Trennung von den Eltern litt. Ein Bild, das sich nach Gutachten von Ärzten und auch nach dem persönlichen Eindruck der Verwaltungsrichter im Laufe des Jahres 2017 gefährlich verfestigt hat.
Widerstand des Auswärtigen Amtes
Versuche, den Familiennachzug zu beschleunigen, scheiterten weiter am Widerstand des Auswärtigen Amtes. Und auch ein Gerichtsurteil im Sommer, das ihm den vollen Asylstatus zusprach, brachte nur kurzfristig Hoffnung, weil das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (BAMF) Rechtsmittel eingelegt hatte. In ihrer jetzigen Entscheidung verurteilen die fünf das Auswärtige Amt nun dazu, Bashars Familie umgehend die Visa für Deutschland zu erteilen.
Dabei halten die fünf Richter die Aussetzung des Familiennachzugs nicht für grundsätzlich rechtswidrig. Das Grundgesetz gebe dem Staat einen breiten Spielraum, Migration zu steuern und auch zu begrenzen. In der Ausgestaltung aber müsse es einen "schonenden Ausgleich" zwischen solchen allgemeinen Regelungen und den schutzwürdigen Grundrechten im Einzelfall geben. Deshalb sei eine wirksame Härtefallregelung, wie sie im Paragrafen 22 des Aufenthaltsgesetzes geregelt sei, ein zwingend notwendiges Korrektiv, um das Kindeswohl bei minderjährigen Flüchtlingen auch im Rahmen einer insgesamt restriktiven Regelung zu garantieren.
Führende Sozialdemokraten verärgert
Im Ergebnis fordert das Gericht also genau das, was die Große Koalition auf Drängen von Außenminister Gabriel als Ausweg aus dem Abstimmungsdebakel im Februar 2016 als Kompromiss vereinbart, aber nie umgesetzt hat. Gabriel hätte das Urteil also durchaus als Rückenwind nehmen können, um endlich den versprochenen humanitären Maßstab bei den Härtefallprüfungen in seinem Ministerium durchzusetzen.
Umso erstaunlicher, dass das Auswärtige Amt nach Recherchen des ARD-Hauptstadtstudios zunächst Berufung gegen die Entscheidung der Berliner Richter eingelegt hatte. Führende Sozialdemokraten reagierten deshalb gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio verärgert und sahen in der Entscheidung einen Angriff auf die Glaubwürdigkeit der SPD. Die hatte sich ja gerade erst auf ihrem Parteitag für den Familiennachzug auch bei Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutzstatus stark gemacht.
Richtungsweisendes Urteil
Offensichtlich erkannte nun auch der Minister die Brisanz. Am Nachmittag bestätigte Gabriel, dass die Berufung zurückgezogen worden sei. Er sagte: "Wir haben als Sozialdemokraten immer gesagt, dass die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von besonderer Bedeutung ist - wie wir überhaupt wissen, dass es natürlich schlecht ist, wenn Minderjährige hier ohne Eltern sind. CDU/CSU und Innenministerium haben dazu häufig eine andere Auffassung vertreten. Dass wir jetzt Klarheit bekommen, ist eine gute Geschichte."
Das richtungsweisende Urteil ist damit rechtskräftig und könnte auch politisch noch Wirkung entfalten. Manche sehen in der Formel vom "schonenden Ausgleich" zwischen allgemeiner Begrenzung und einem wirksamen Schutz in Härtefällen wichtige Anhaltspunkte für einen möglichen Kompromiss in den Sondierungen zwischen SPD und CDU/CSU beim Streitthema Familiennachzug.
Gewissheit zählt
Für den 16-jährigen Bashar ist das alles freilich sehr abstrakt. Für ihn zählt die Gewissheit, dass er nun bald wieder mit seiner Familie vereint sein wird. Als er am Nachmittag seine Familie nahe Damaskus anrief, flossen dort viele Tränen.
Und auch Thomas Henke, der als Vormund zwei Jahre für diesen Moment gekämpft hat, ist vor allem erleichtert: "Wenn man etwas verändern will, dann muss man dicke Bretter bohren. Dass es jetzt so kurz vor Weihnachten geklappt hat, ist einfach unvorstellbar schön."
Aus dem Archiv
Weitere Meldungen aus dem Archiv vom 22.12.2017
- Alle Meldungen vom 22.12.2017 zeigen