Kemal Kilicdaroglu vor einem Treffen mit anderen Oppositionspolitikern in Ankara
Porträt

CHP-Chef Kilicdaroglu Der Anti-Erdogan

Stand: 06.03.2023 20:43 Uhr

Das Oppositionsbündnis in der Türkei hat sich geeinigt: CHP-Chef Kilicdaroglu tritt im Mai als Gegenkandidat zu Präsident Erdogan an. Wer ist der Mann, der für seine Politik auch schon mal 400 Kilometer zu Fuß geht? Wie groß sind seine Chancen?

Von Uwe Lueb, ARD-Studio Istanbul

Kemal Kilicdaroglu ist eine Art Anti-Erdogan. Mitreißende Reden etwa sind von ihm kaum überliefert. Scharf angreifen kann er aber durchaus - wie zuletzt nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei mit Zehntausenden Toten. Viel Schuld daran tragen nach seiner Ansicht Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen AKP:

Sie waren in allen möglichen Dingen untätig, so wie hier auch. Sie haben wirklich keine Ahnung wie man einen Staat regiert. Ich sage es ganz offen: Wenn jemand hauptverantwortlich für diese Folgen ist, dann ist es Erdogan. Es ist diese Regierung, die das Land 20 Jahre lang nicht auf ein Erdbeben vorbereitet hat.

Ein politischer Spätzünder mit Rückhalt in der CHP

20 Jahre, in denen Kilicdaroglu selbst Politik macht. 2002 kommt er für die sozialdemokratische CHP zum ersten Mal ins Parlament. Mit damals schon Anfang 50 ist er allerdings ein politischer Spätzünder. Nach seinem Wirtschaftsstudium arbeitet er zunächst in der Verwaltung. In den 1990er-Jahren ist er Chef der türkischen Sozialversicherungsbehörde. Politische Ämter bekleidet Kilicdaroglu lange nicht.

2009 stellt er sich für das Amt des Istanbuler Bürgermeisters zur Wahl, unterliegt aber dem AKP-Kandidaten. Seiner Beliebtheit in der CHP schadet das nicht. Ein Jahr später wird er deren Vorsitzender, gewählt mit 100 Prozent. Und er setzt sein Thema: gegen Korruption und Vetternwirtschaft.

Das ist auch derzeit ein herausragendes Thema seines Wahlkampfes: "Wegen einer korrupten Führung haben die Bürger keinen Anteil am Wohlstand. Aber ich habe meinen Bürgern versprochen, korrupte Unternehmer und Korruption zu bekämpfen." Er werde sich nicht in den Dienst schmutziger Konzerne stellen, so Kilicdaroglu.

Rund 20 Milliarden Euro hat Korruption nach seinen Berechnungen den Staat schon gekostet. Geld, das Kilicdaroglu nach einem Regierungswechsel eintreiben möchte.

Korruption, Demokratie und Gerechtigkeit

Dann will er auch sein anderes großes Thema umsetzen: Demokratie und Gerechtigkeit. Dafür startet er im Sommer 2017 seine bisher vermutlich am meisten beachtete Aktion - den so genannten Gerechtigkeitsmarsch. Kilicdaroglu geht die mehr als 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul zu Fuß. Tausende schließen sich an, auch von der prokurdischen HDP. Sie demonstrieren gegen die Haft für einen CHP-Politiker und den Journalisten Can Dündar.

Sein Hauptgegner Erdogan rückt den linksorientierten Kilicdaroglu unter anderem deswegen in die Nähe der kurdischen Terrorgruppe PKK. Vor lauter Dialog mit den "HDP-Marionetten der PKK" habe Kilicdaroglu allen politischen Anstand verloren. "Oder bist es etwa nicht Du, der Hand in Hand geht mit seinen Kameraden von der PKK? Bist es etwa nicht Du gewesen, der von Ankara nach Istanbul mit ihnen gemeinsam marschierte? So viele Soldaten haben sie getötet, aber das ist ihm egal", sagt Erdogan an seinen Konkurrenten gerichtet.

Der CHP-Vorsitzende Kilicdaroglu hält ein Plakat mit der Aufschrift "Gerechtigkeit" hoch

2017 lief Kilicdaroglu beim "Marsch für Gerechtigkeit" mit - mit einem Plakat mit der Aufschrift "adalet", dem türkischen Wort für Gerechtigkeit

"Tyrannen gehen am Ende immer"

An Kilicdaroglu prallt das ab. Stattdessen prangert er Erdogan und dessen Politik an. Er ruft etwa dazu auf, Stromrechnungen nicht mehr zu bezahlen, weil die Regierung an den gestiegenen Preisen Schuld sei. Oder er greift die schlechter werdende Stimmung gegenüber syrischen Flüchtlingen auf, verspricht, dass er sie außer Landes bringen werde. Und er gibt sich siegessicher. Vor wenigen Wochen sagt er im Parlament Erdogans politisches Ende voraus:

Er leugnet die Wirtschaftskrise, er leugnet den Hunger, er leugnet die Arbeitslosigkeit, er leugnet, dass die Migranten, die er hergeholt hat, ein Problem sind. Ich will Ihnen eine Tatsache sagen, die er nicht leugnen kann: Tyrannen gehen am Ende immer.

Tatsächlich könnte Kilicdaroglu nun sein Nachfolger werden. Politikwissenschaftler sagen, wenn einer Wählerinnen und Wähler aus allen Lagern ansprechen könne, dann Kilicdaroglu.

 

Uwe Lueb, Uwe Lueb, ARD Istanbul, 06.03.2023 18:48 Uhr