NATO-Generalsekretär Stoltenberg und der ukrainische Präsident Selenskyj schütteln sich die Hände
analyse

NATO zum Ukraine-Krieg Braucht der Westen eine neue Strategie?

Stand: 27.11.2023 18:23 Uhr

Die Lage ist düster: Der Winter ist angebrochen, die ukrainische Offensive stockt, die Ressourcen werden knapp. NATO-Generalsekretär Stoltenberg bekräftigt die Unterstützung der Ukraine - doch wie soll es weitergehen?

Die Ausgangslage könnte kaum düsterer sein: Wintereinbruch - Eis und Schneesturm in einigen Teilen der Ukraine. Und die Hauptstadt Kiew hat gerade die schlimmsten Drohnenangriffe erlebt, seit Beginn des russischen Überfalls vor mehr als 650 Tagen.

Selten sprach so viel Ernüchterung aus den Worten vieler europäischer Politikerinnen und Politiker. So auch bei Verteidigungsminister Boris Pistorius beim jüngsten Treffen der EU-Verteidigungsminister: "Ich glaube, dass wir jetzt eine Situation sehen, die einerseits viele Bestandteile hybrider und digitaler Kriegsführung hat." Andererseits erinnere sie auch sehr an Stellungskriege aus dem letzten Jahrhundert. "Ein Abnutzungskrieg findet statt. Die wechselseitigen Geländegewinne sind außerordentlich marginal. Das heißt: Es fährt sich fest."

Großoffensive ohne durchschlagenden Erfolg

Die ukrainische Großoffensive war ohne durchschlagenden Erfolg. Vielerorts verteidigen die Ukrainer mit Tonnen von Material und auf Kosten vieler Menschenleben ihre Stellungen gegen die russische Übermacht.

Insgesamt entsteht ein Eindruck von "auf dem Schlachtfeld nichts Neues". Das kann täuschen, sagt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg: "Wir sehen die intensivsten Kämpfe seit Monaten. Und ja, die Frontlinie hat sich kaum bewegt." Aber den Ukrainern sei es gelungen, den russischen Invasoren schwere Verluste zuzufügen - gemessen an Personen und Verlusten, aber auch an der Zerstörung von Kampfkapazitäten. "Und das sind erhebliche militärische Gewinne, selbst ohne nennenswerte Gebietsgewinne", so Stoltenberg.

Die Ressourcen werden knapper

Aber auch die Ressourcen werden knapper: Eine Million Schuss Munition hatte die EU im Frühjahr versprochen - aber bisher etwa nur ein Drittel geliefert. Dazu braucht die Ukraine jetzt dringend mehr Luftabwehrsysteme, sagt Präsident Wolodymyr Selenskyj. Über die weiteren Flugabwehrraketensysteme vom Typ "Iris-T", die Pistorius vergangene Woche in Kiew versprochen hat, hinaus.

Deutschland stehe zu allen Zusagen - auch trotz des neuen mindestens 60 Milliarden Euro großen Haushaltslochs, bekräftigt Bundesaußenministerin Annalena Baerbock vor ihrem NATO-Besuch in Brüssel: "Es ist in unserem eigenen, in unserem geopolitischen Interesse, dass die Ukraine in die Europäische Union kommt. Deswegen werden wir unsere Unterstützung für die Ukraine nicht nur weitermachen, sondern verstärken. In der EU, aber auch in der NATO."

Die großen Fragen bleiben

Gerade die rund acht Milliarden Euro extra aus Deutschland, plus zwei Milliarden aus den Niederlanden, sind ein neues starkes Signal der Unterstützung der NATO-Partner, erklärt Generalsekretär Stoltenberg. Ebenso wie das Trainingszentrum in Rumänien, wo seit zwei Wochen Ukrainer an F16-Kampfjets ausgebildet werden. 

Die großen Fragen hängen aber weiter über dem NATO-Hauptquartier: Reicht das - und wofür? Braucht der Westen eine neue Strategie? Auch angesichts der Gefahr, dass der größte Unterstützer, die Vereinigten Staaten, sich zurückziehen könnten?

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee Walerij Saluschnyj warnt gerade vor einem "zermürbenden Grabenkrieg, der sich über Jahre hinziehen könnte", wenn die Ukraine nicht ganz neue Waffentypen bekomme. Auch ein Verweis auf den deutschen Marschflugkörper "Taurus", dessen Lieferung Bundeskanzler Scholz ablehnt.

Ureigenes Sicherheitsinteresse

Dazu sagt der oberste NATO-Beamte diplomatisch: "Wir versorgen die Ukraine mit immer fortschrittlicheren Systemen. Und es geht nicht um einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte Waffe. Die Frage ist: Wie funktionieren sie alle zusammen? Wie setzen wir Drohnen ein, wie nutzen wir Cyberangriffe? Wie verbinden wir gewisse Waffensysteme, um neue Kapazitäten für die Ukraine zu schaffen?"

Denn daran habe sich rein gar nichts geändert. Die NATO-Partner, so Stoltenberg, stehen fest an der Seite der Ukraine - schon im ureigenen Sicherheitsinteresse. 

Kathrin Schmid, ARD Brüssel, tagesschau, 27.11.2023 18:01 Uhr