Ein Tropf an einem Stoffherz auf einer Station der Palliativ Medizin - im Hintergrund eine Patientin (unscharf)-

Lieferengpässe bei Medikamenten Palliativmediziner schlagen Alarm

Stand: 16.12.2023 12:26 Uhr

Ein Lieferengpass bei speziellen Schmerz- und Beruhigungsmitteln erschwert die Arbeit bei der Behandlung von Sterbenskranken. Apotheker und Mediziner warnen vor den Konsequenzen.

Von Tim Diekmann, SWR

Claudia Lüdtke hat heute keinen guten Tag erwischt. "Ich habe rasende Kopfschmerzen", sagt die 48-Jährige, die in ihrem Bett liegt. Ein Tropf versorgt sie mit Nährstoffen, eine kleine graue Pumpe injiziert dauerhaft einen Medikamentenmix gegen Schmerzen und Übelkeit. Lüdtke hat Brustkrebs mit Metastasen in Knochen und Bauchfell. Sie wird sterben. "Ich kann Ihnen anbieten, dass wir die Dosierung erhöhen", sagt die ärztliche Leiterin des ambulanten Palliativdienstes in Tübingen, Christina Paul.

Sie hat sich mit einem Stuhl ans Bett ihrer Patienten gesetzt, kontrolliert die Einstellungen der Schmerzpumpe: "Wir versuchen, die Symptome so gut wie möglich zu behandeln." Seit einem Jahr betreut sie Claudia Lüdtke, jetzt ist das Ziel, sie fit für Weihnachten zu bekommen. "Ich möchte unbedingt die Geschenke für die Kinder besorgen und den Weihnachtsbaum schmücken", sagt Lüdtke. Deshalb will Ärztin Paul nun die Schmerzmittel erhöhen.

Schmerz- und Beruhigungsmittel nicht lieferbar

Doch das könnte zum Problem werden. Die letzten Ampullen des Schmerzmittels Novalgin sind bereits angebrochen, neue sind seit Wochen nicht mehr lieferbar. Ändert sich daran nichts, ist das Novalgin in 14 Tagen aufgebraucht. "Dann müssen wir mit dem Opiat hochgehen. Ich will nicht, dass Sie die Schmerzen aushalten", sagt Paul zu ihrer Patientin. Mit dem Opiat ist Morphin gemeint. Das Schmerzmittel kommt bei starken Schmerzen zum Einsatz. Eine zu hohe Dosis mache müde, so die Ärztin. Claudia Lüdtke aber will an ihrem Familienleben weiter teilhaben und nicht den Tag über schlafen.

"Seit einem, anderthalb Jahren wird es für uns immer schwieriger", sagt Paul und spricht von anhaltenden Lieferschwierigkeiten bei Schmerz- und Beruhigungsmitteln. "Der Mangel verfolgt uns schon seit Jahren", beklagt auch Apotheker Björn Schittenhelm. "Bei diesen ganz speziellen Medikamenten, wo der Bedarf sehr gering ist, sind seit einem halben Jahr viele Darreichungsformen gar nicht mehr lieferbar."

Weil Sterbenskranke oft nicht mehr schlucken können, helfen die derzeit verfügbaren Tabletten nicht. Lorazepam, ein Beruhigungsmittel, wird in der Palliativmedizin als Schmelztablette genutzt - sie löst sich in der Wange des Patienten auf. Auch dieses Mittel ist seit Monaten nicht lieferbar. "Das macht uns wütend. Die Politik reagiert immer nur dann, wenn die Schlagzeilen groß genug sind. Das hatten wir letztes Jahr bei den Fiebersäften bei den Kindern", sagt Schittenhelm. Die Lobby bei Palliativpatienten dagegen sei klein.

Neues Gesetz soll Medikamentenmangel vorbeugen

Als Reaktion auf den Mangel an Kindermedikamenten hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) auf den Weg gebracht. Hersteller bestimmter Kinderarzneimittel können seit diesem Jahr nun den Preis um bis zu 50 Prozent anheben. Außerdem soll eine Medikamentenbevorratung künftigen Mangellagen vorbeugen.

Der Arzt und Gesundheitsökonom Afschin Gandjour von der Frankfurt School of Finance and Management begrüßt das Gesetz: "Lieferengpässe dauern im Median 90 Tage. Das heißt, dass 50 Prozent der Lieferengpässe weniger als 90 Tage dauern und 50 Prozent mehr. Wenn ich dann die Bevorratungsdauer auf 90 Tage festlege, dann kann ich auch ungefähr abschätzen, dass sich damit 50 Prozent der Lieferengpässe verhindern kann."

Bis der Effekt aber eintritt, könne es noch dauern, weil im Sommer noch neue Verträge abgeschlossen wurden, die keine Bevorratung vorsehen. "Ab 2026 ist mit einem Effekt zu rechnen", sagt Gandjour.

Kritik von Apotheker: „Bevorratung bringt gar nichts“

Eine Lösung des akuten Liefermangels von Palliativmedikamenten sieht Apotheker Schittenhelm in Holzgerlingen im neuen Gesetz dagegen nicht. "Für eine Bevorratung muss das Medikament ja erst mal produziert werden und verfügbar sein", so Schittenhelm. Das sei aber nicht der Fall. "Ein Lösungsweg muss sein, dass die Politik endlich reagiert und handelt und nicht nur in homöopathischen Dosen in das System eingreift", die "Geiz-ist-Geil-Mentalität" der Vergangenheit habe zu Herstellerverfall und Lieferengpässen geführt.

Dazu kommt: In Deutschland werde für manche Medikamente so wenig bezahlt, dass die Pharmaindustrie sie lieber im Ausland verkaufe, so der Apotheker, der auch im Vorstand der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg sitzt. Das müsse sich ändern.

Mehr Geld für Hersteller auch keine Lösung?

Mehr Sicherheit bei der Verfügbarkeit von Medikamenten könne man nur erreichen, wenn man die Wirkstoffproduktion nach Europa zurückholt, sagt Gesundheitsökonom Gandjour. Das sei aber sehr teuer. Ursachen für die momentanen Lieferengpässe lägen meist im asiatischen Raum: "Das hängt häufig mit Qualitätsproblemen zusammen, mit Rohstoffknappheit oder mit technischen Problemen", so der Professor für Health Management. Wenn ein Engpass aber erst mal besteht, helfe es nicht, mehr Geld zu bieten.

Ärztin Christina Paul in Tübingen will nun erst mal dafür sorgen, dass ihre Palliativpatientin ein möglichst schmerzfreies Weihnachtsfest erleben kann. Aufgabe der Palliativmedizin sei es schließlich "nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben", sagt Paul. Bis Weihnachten werden die Vorräte des Schmerzmittels Novalgin in jedem Fall reichen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR2 am 14. Dezember 2023 um 16:05 Uhr in der Sendung "Wissen aktuell - SWR2 Impuls".