Nathan Evans auf dem Cover seines Albums "Wellerman - The Album".

Musik-Charts Warum Songs immer kürzer werden

Stand: 04.03.2023 16:21 Uhr

Der schottische Sänger Nathan Evans wurde mit "Wellerman" über Nacht zum TikTok-Star - dank einer Minute und 55 Sekunden. Kurze Songs stürmen gerade die Charts. Das hat auch mit dem Einfluss von Social Media und Streamingdiensten zu tun.

Von Nils Crauser, SR

Wie erregt man auf TikTok oder Instagram Aufmerksamkeit zwischen all den Influencer-Posts und Katzenvideos? Das beschäftigt mittlerweile auch immer mehr Musiker und Songwriter, denn die Konkurrenz ist groß.

Das weiß auch Tim Schoon, der zusammen mit Matteo Schwanengel das Musikproduzentenduo Tim & Matteo bildet. Die beiden jungen Saarbrücker können als Referenz unter anderem auf ein Nummer-Eins-Album in den Charts verweisen - das Album Y.A.L.A der Hip-Hop-Gruppe Genetikk, für das sie Texte schrieben und als Produzenten tätig waren. Sie wissen also, wie das Geschäft läuft. Trotzdem stehen auch sie immer wieder vor der Herausforderung, in kürzester Zeit mit ihrer Musik zu überzeugen.

"Drei Mal das Thema in den ersten 30 Sekunden"

Ein Besuch in ihrem Studio, wo die beiden gerade an neuen Ideen basteln - und natürlich auch analysieren, was andere Künstler so machen. Erste Hörprobe am Laptop im Studio: "Wildberry Lillet" von Nina Chuba. Schoon und Schwanengel hören aufmerksam zu. Der Song war ein Nummer Eins-Hit, und die beiden glauben schnell zu wissen, warum: Schon in den ersten 30 Sekunden kommt dreimal die eingängige Melodienphrase.

"Bei dem Song ist krass, dass am Anfang gleich dreimal die Hook kommt und sich das irgendwie auch gar nicht abnutzt", findet Schwanengel. "Erstmal kommt es nur so gemurmelt, beim zweiten Mal ist dann ein bisschen Musik dabei, und beim dritten Mal kommt die komplette Hook", sagt Schoon. "Und man hat gar nicht das Gefühl, dass es aneinanderkopiert ist. Alles mit musikalischem Konzept. Sehr gut gemacht." 

Matteo Schwanengel (links) und Tim Schoon

Die Musikproduzenten Matteo Schwanengel (links) und Tim Schoon.

Generell könne man sagen, dass ein Song möglichst schnell zu Sache kommen sollte. Refrains am Anfang sind keine Seltenheit. Außerdem reicht mittlerweile nur ein Refrain als Erkennungsmerkmal nicht mehr aus. Um erfolgreich zu sein, sollte ein Song schon mehrere kleine Hooklines haben, also eingängige Melodiephrasen. Möglichst so, dass man sie auch in ein TikTok-Video einbauen könnte, erklären die beiden.

Der Einfluss von Spotify

Dieses Schnell-zur-Sache kommen wie bei Nina Chuba hat aber noch einen weiteren Effekt: Die kommerziell erfolgreichen Songs werden tendenziell immer kürzer. "Wildberry Lillet" ist nicht viel länger als zwei Minuten. Das hat auch einen rein wirtschaftlichen Grund, wie Schoon erklärt: "Spotify wertet einen Stream ab 30 Sekunden. Sprich: Ist ein Song länger als 30 Sekunden, dann gibt es nicht mehr Geld, als wenn er nach 30 Sekunden endet."

Deshalb sei es wirtschaftlich betrachtet für Künstler besser, den Song kurz zu halten, damit er öfter gehört wird. Denn dann gebe es mehr Streams und damit auch mehr Geld. Schwanengel ergänzt: "Wenn man einen Song schreibt und hat da drei Mal einen Refrain, und der Hörer würde sich den noch ein viertes Mal wünschen - dann kann man den entweder reinpacken oder sagen: hör Dir den Song halt nochmal an."

Schon Beethoven wusste: "Das muss irgendwie ballern"

Viele Vorgaben, viele Regeln: Da könnte man als junger Musikschaffender verzweifeln. Die beiden sehen das aber eher als Herausforderung an. Die Idee, auf den Punkt zu kommen, gleich am Anfang das Publikum zu packen, eingängige Songteile zu schreiben, sei ja nicht wirklich neu. Das zeigt auch Hörprobe zwei: Aus den Lautsprechern kommt "Help" von den Beatles. Die beiden sind begeistert. So ein Song könnte auch heute noch problemlos mithalten. "Es wird direkt gesungen. Es kommt direkt der Refrain", sagt Schwanengel. "Auch direkt mit dem Schlagwort 'Help', das richtet sich direkt an den Zuhörer", pflichtet Schoon ihm bei.

Schwanengels Hörprobe Nummer drei geht noch etwas weiter zurück. Der Musikproduzent gibt sie gleich selbst zum Besten: "Dadada daaa" - er singt den Anfang von Beethovens 5. Symphonie und kommt gleich ins Analysieren: "Als Beethoven das geschrieben hat, da war es schon so, dass er dachte, das muss irgendwie ballern. Das muss direkt jedem im Ohr sein. Und auch da sind es nur zwei verschiedene Töne und vier Noten - das reicht, um dieses Motiv immer weiter zu entwickeln in der Klassik".

Beide sind übrigens überzeugt, dass es auch noch Publikum für längere Songs gibt, etwa im Rockbereich oder beim Techno. Da komme es ja eher darauf an in die Musik einzutauchen - und das brauche Zeit.