Plenum im Bundestag.
FAQ

Diskussion über Wahlrecht Kommt es zum XXL-Bundestag?

Stand: 25.08.2020 10:43 Uhr

Heute könnte eine der letzten Chancen sein, einen aufgeblähten Bundestag nach der nächsten Wahl zu verhindern, sofern die Union die SPD von ihrem Last-Minute-Vorschlag überzeugt. Worum geht es?

In den einzelnen Wahlkreisen werden schon die ersten Kandidaten für die Bundestagswahl 2021 von ihren Parteien aufgestellt. Wie hart umkämpft die Posten sind, zeigt sich nicht nur im Berliner Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf, wo selbst der Regierende Bürgermeister gegen seine Staatssekretärin um die begehrte Aufstellung kämpfen muss. Seit März läuft der Prozess in den aktuell 299 Wahlkreisen in ganz Deutschland. Der Vorschlag der Union zur Reformierung des Wahlrechts soll trotzdem noch die Parameter verändern. Nötig wäre es, denn sonst könnte sich der Bundestag auf mehr als 800 Abgeordnete aufblähen. Eigentlich vorgesehen sind nur 598.

Wo liegt das Problem?

In Deutschland gilt das personalisierte Verhältniswahlrecht. Jeder Wähler hat zwei Stimmen. Die zweite entscheidet darüber, wie viele Sitze eine Partei im Verhältnis der abgegebenen Stimmen im Bundestag bekommt. Die Abgeordneten werden dabei anhand der Reihenfolge ihrer Landesliste ausgewählt. Mit der ersten Stimme wird hingegen in den 299 Wahlkreisen ein Kandidat direkt gewählt - das ist der personalisierte Teil.

Wenn eine Partei aber über die Erststimme mehr Direktmandate erhält, als ihr über die Zweitstimme zustehen, dann werden diese sogenannten Überhangmandate seit 2013 ausgeglichen. Die anderen Parteien bekommen dann so viele Sitze dazu, bis das Verhältnis der Zweitstimme wieder hergestellt ist.

Die 43 Überhangmandate der Union bei der Wahl 2017 haben so ganze 65 Ausgleichsmandate nach sich gezogen. Als größter Profiteur gilt hier die CSU. Mit den drei Überhangmandaten der SPD entstand der heutige XL-Bundestag mit 709 Abgeordneten, der sich nach jüngsten Umfragen 2021 zu einem XXL-Bundestag aufblähen könnte. Verhandlungen werden erschwert, je größer etwa die Ausschüsse sind. Zudem drohen Kosten in Milliardenhöhe, befürchtet der Bund der Steuerzahler.

Drei Stellschrauben: Der Last-Minute-Vorschlag der Union

CDU und CSU wollen heute ihren SPD-Partner im Koalitionsausschuss von einem Modell überzeugen, das an drei Stellschrauben ansetzt:

Der erste Dreh ist, dass die Union nicht mehr alle Überhangmandate ausgleichen möchte. Bis zu sieben sollen ausgleichslos bleiben.

Der zweite Dreh ist die Verringerung der Wahlkreise von derzeit 299 auf 280, so entstehen weniger Direktmandate, die Überhänge und Ausgleiche produzieren. Welche Wahlkreise wegfallen sollen, hat die Union noch nicht verraten. Klar ist aber, dass je nach Bevölkerungszahl fast jedes Land hier Federn lassen müsste. NRW würde demnach sogar vier verlieren, Berlin einen. Mit dem Wegfall der 19 Wahlkreise müssen sich dann auch noch die umliegenden Wahlkreise neuorganisieren. Ein kompliziertes Verfahren. Zudem sind in vielen Wahlkreisen die Nominierungen der Kandidaten schon gelaufen.

Mit der dritten Stellschraube sollen Überhangmandate einer Partei mit ihren Listenmandaten in anderen Ländern teilweise verrechnet werden können.

Wolfgang Schäuble

Bundestagspräsident Schäuble fordert endlich eine Lösung: "Es geht hier um die Handlungsfähigkeit des Parlaments und damit um das Vertrauen der Bürger in unsere parlamentarische Demokratie."

Kann der Bundestag damit kleiner werden?

Wenn alle drei Faktoren so umgesetzt würden, hätte nach Angaben der Union der heutige Bundestag statt 709 lediglich 642 Sitze. Nach den Ergebnissen einer Emnid-Umfrage zur Bundestagswahl vom Januar 2020 errechneten 822 Abgeordneten zögen nur noch 727 ein. Eine feste Bundestagsgröße kann hiermit also nicht garantiert werden. Immerhin wäre das ungebremste Anwachsen etwas gestoppt. Statt XXL- weiterhin ein XL-Bundestag.

Warum brauchte die Union so lange für eine gemeinsame Linie?

Die Union profitiert ungleich stark von der jetzigen Situation, da sie viele Wahlkreise direkt gewinnt. Für den ersten Vorstoß von Fraktionschef Ralph Brinkhaus vor der Sommerpause gab es zunächst heftige Widerstände. Mit dem jetzigen Vorschlag sei die CSU zwar auch nicht völlig zufrieden, heißt es aus Parteikreisen, jedoch trage sie den Vorschlag so erstmal mit.

Was will die SPD?

Die SPD verfolgt einen gänzlich anderen Ansatz. Sie will einen Deckel. Bei 690 Abgeordneten soll Schluss sein. Danach soll gekappt werden und zwar nach dem Motto: Der Schwächste fliegt. Die Direktkandidaten, die ein Überhangmandat auslösen und die wenigsten Stimmen bekommen, sollen unberücksichtigt bleiben. Damit entfielen entsprechend auch die Ausgleichsmandate. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Carsten Schneider, nennt es ein Brückenmodell nur für die nächste Bundestagswahl. Eine Veränderung bei den Wahlkreisen hält er für 2021 nicht mehr für machbar.

Carsten Schneider

Die SPD schlägt für die nächste Bundestagswahl ein Brückenmodell vor. Für eine ausgeruhte Reform sei die Zeit schon zu knapp, so Carsten Schneider (SPD).

Und was schlägt die Opposition vor?

Grüne, Linke und FDP haben einen gemeinsamen Vorschlag bereits Ende vergangenen Jahres auf den Tisch gelegt. Ihre Kappungsgrenze liegt bei 630 Abgeordneten.

Dieses Ziel möchte das ungewöhnliche Trio durch zwei Kniffe erreichen: Erstens will sie die Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 250 verringern. Allein dadurch verringert sich proportional die Zahl der Abgeordneten, Direktmandate blieben erhalten. "Wählerstimmen gingen so nicht verloren. Es bleibt bei "one man, one vote", sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Marco Buschmann. In einer Beispielrechnung würde die CDU so statt 200 nur noch 178 Plätze zustehen, den Grünen 59 statt 67.

Es ist der einzige Vorschlag, der in den Bundestag offiziell eingebracht wurde. Kritiker sagen allerdings, dass sich das Aktionsfeld für Abgeordnete sehr stark vergrößere. Er könne kaum überall im Wahlkreis dann noch präsent sein.

Marco Buschmann

Zusammen mit Bündnis90/Die Grünen und den Linken hat die FDP vorgeschlagen, die Wahlkreise zu reduzieren. Nur hiermit gingen keine Wählerstimmen verloren. Es bliebe bei "one man, one vote", sagt Marco Buschmann (FDP).

Was kommt von der AfD?

Die AfD hat bislang keinen eigenen Gesetzesvorschlag in den Bundestag eingebracht. Sie formuliert lediglich gewisse Leitlinien für ein solches. Die AfD will, dass die Regelgröße von maximal 598 Abgeordneten nicht überschritten werden darf. Eine Partei soll daher nur so viele Direktmandate bekommen, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Der Vorschlag wird von allen Parteien abgelehnt.

Kann noch für die Wahl 2021 eine neue Regel kommen?

Die Union geht davon aus, dass ihr Vorschlag noch realisierbar sei. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Große Koalition wirklich darauf einigt. Bis zur ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause könnte dann ein ausformuliertes Gesetz vorgelegt werden. Das wäre Anfang September - fast genau ein Jahr vor der Wahl. Auf Europa-Ebene gibt es über die sogenannte Venedig-Kommission des Europarats gewisse Spielregeln für Wahlen. Danach sollen die "Grundelemente des Wahlrechts und insbesondere des Wahlsystems (...) bis ein Jahr vor einer Wahl nicht mehr verändert werden." Die Uhr tickt also sehr laut.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 25. August 2020 um 07:32 Uhr.