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Streit zwischen Bund und Ländern Das Ende der Asylprognosen? 

Stand: 04.03.2024 17:35 Uhr

Die Länder fordern den Bund auf, die vorgeschriebenen Prognosen über Asylbewerberzahlen vorzulegen. Doch das Innenministerium hält konkrete Vorhersagen für "nicht möglich". Laut WDR und NDR erwägt der Bund, die Verpflichtung ganz abzuschaffen.

Von Manuel Bewarder, WDR/NDR

Wenn die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten in dieser Woche den Bundeskanzler treffen, dann wird es auch um die Frage gehen, wie in diesem Land die Aufnahme neuer Asylsuchender am besten funktionieren kann. Worauf sie allerdings nicht hoffen sollten: dass die Bundesregierung eine Prognose liefert, wie viele denn überhaupt kommen könnten.

Nach Recherchen von WDR und NDR erwägt die Bundesregierung die Abschaffung der gesetzlichen Pflicht, wonach der Bund den Ländern monatlich eine Asylbewerberprognose vorlegen muss.

Mithilfe einer solcher Vorschau über die voraussichtliche Entwicklung sollen Länder und Kommunen besser die Unterbringung und Versorgung planen können, für die sie zuständig sind. Das Bundesinnenministerium aber legt diese Prognosen seit Längerem nicht mehr vor. 

Neuer Streit beim Thema Migration?

Bundesregierung und Bundesländer steuern damit auf einen Streit beim Thema Migration zu: Im Beschluss des vergangenen Treffens im November 2023 forderten die Länder den Bund ausdrücklich auf, "in Zukunft regelmäßig auch Zugangsprognosen zur Verfügung" zu stellen. Man gehe davon aus, dass der Bund "zeitnah wieder zur Umsetzung" der gesetzlichen Pflicht zurückkomme, heißt es in dem Beschluss.

Die Länder verlieren die Geduld - denn der Bund übermittelt die Prognosen schon seit Jahren nicht mehr. Solange die Asylzahlen relativ niedrig waren, schwelte der Streit nur untergründig. Doch 2023 kamen wieder deutlich mehr Asylbewerber. Deshalb ist der Streit neu entfacht. 

In den Bundesländern hält man an den schriftlichen Vorausschauen fest. Schleswig-Holsteins Integrationsministerium etwa bemängelt, dass der Bund bereits seit Jahren keine Prognose mehr überliefere. Das NRW-Ministerium für Flucht und Integration betont, dass fehlende Prognosen die Planung von Unterbringungskapazitäten des Landes und auch der Kommunen "erheblich" erschwerten.

Eigene Prognosen

Das Land müsse einspringen und für die Kommunen eigene Analysen erstellen - als Land könne man aber "wesentliche Aspekte wie außenpolitische Entwicklungen oder Planungen auf europäischer Ebene nicht abdecken". 

Auch in Sachsen versucht das Land einzuspringen, wie Innenminister Armin Schuster von der CDU sagt: "Da der Bund sich weigert, seiner diesbezüglichen gesetzlichen Pflicht nachzukommen, muss der Freistaat Sachsen selbst mit eigener Datenlage für sich eine solche Prognose erstellen."

Im vergangenen Jahr lagen die Experten des Landes offenbar ganz gut mit ihren Zahlen. Für Schuster ist deshalb klar, "dass es dem Bund erst recht möglich sein sollte". Man müsse, so Schuster, "wohl politische Motive unterstellen, dass dies hartnäckig verweigert wird".

Kritik aus der Unionsfraktion

Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Alexander Throm, kritisiert das Innenministerium deutlich: "In dieser Migrationskrise glaubt Deutschlands Innenministerin, sich aussuchen zu dürfen, welche Gesetze sie befolgt und welche nicht", so der CDU-Politiker. Throm sagt, die Länder und Kommunen brauchten diese Information, um "halbwegs in dieser Krise vorbereitet zu sein".

Asylprognosen, die in den vergangenen Jahren an die Öffentlichkeit gerieten, haben in der anschließenden Diskussion allerdings immer wieder Folgen gehabt. In der politischen Auseinandersetzung wurde der Regierung zum Beispiel vorgeworfen, eine solche Zahl von prognostizierten Asylbewerbern als eigene Zielmarke festzulegen.

Schlepper in Herkunftsländern wiederum nutzten Zahlen aus Asylprognosen, um möglichen Kunden vorzugaukeln, dass Deutschland eine entsprechende Zahl von Asylsuchenden im jeweiligen Jahr auf jeden Fall aufnehmen werde. Nach Informationen von WDR und NDR floss dies in die Entscheidung ein, warum das Innenministerium mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die schriftlichen Prognosen stoppte. 

Ein Sprecher des Hauses von Nancy Faeser (SPD) erklärte auf Anfrage, dass eine "verlässliche und hinreichend konkrete" Migrationsprognose "nicht möglich" sei. Er verweist auf die "dynamische Lageentwicklung" und auf "unvorhersehbare Ereignisse" wie etwa das Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar 2023.

Innenministerium: "Informationsbedürfnis der Länder gedeckt"

Dem Innenministerium zufolge sei das "Informationsbedürfnis der Länder" gedeckt, da sich "andere Formate" etabliert hätten. Der Bund übermittle beispielsweise monatlich die Zugangszahlen der Asylanträge. Über ein sogenanntes Migrations-Dashboard mit tagesaktuellen Informationen würden Länder und Kommunen weiter Zahlen zur Verfügung gestellt.

Der Sprecher des Ministeriums bestätigte, dass es im Innenministerium Überlegungen gebe, wie mit der gesetzlichen Prognosepflicht umzugehen sei - derzeit gebe es aber kein konkretes, also offizielles Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Paragraphen.

Tatsächlich informiert zum Beispiel BAMF-Präsident Hans-Eckhard Sommer regelmäßig in der sogenannten Bund-Länder-Tagung Asyl und Rückkehr (BLTAR) über aktuelle Entwicklungen. Das BAMF selbst hatte für die interne Planung im vergangenen Jahr nach Informationen von WDR und NDR auch verschiedene sogenannte Szenarien erstellt: Das interne Höchstszenario für 2023 hatte zuerst bei 320.000 Asylanträgen gelegen. Ende des Jahres hatte man nochmal erhöht: Tatsächlich wurden dann etwa 350.000 Asylanträge gezählt.

Noch kein Szenario für 2024?

In den Bundesländern will man sich damit aber nicht zufriedengeben - auch weil das BAMF ein solches Szenario für 2024 bislang noch nicht erstellt haben soll. Das Innenministerium in Brandenburg etwa erklärt, dass die vom Bund angeführten Informationsquellen "kein gleichgeeignetes Mittel" darstellten, um den "missachteten gesetzlichen Auftrag zu kompensieren".

Die Länder könnten nicht über ein "umfassendes Erkenntnisbild" verfügen. Mit Blick auf regelmäßige Runden wie die BLTAR heißt es aus Brandenburg, dass das Bundesinnenministerium dabei "keine Prognose zur Migrationsentwicklung" im gesetzlichen Sinne treffe.

Vor wenigen Tagen wurde BAMF-Präsident Sommer übrigens im Innenausschuss des Bundestages zur Lage befragt. Die im Herbst zusätzlich eingeführten Grenzkontrollen sorgten für eine gewisse Stabilität, sagte Sommer laut Teilnehmerkreisen - stabil, aber auf hohem Niveau.