Fans nehmen an einem Musikkonzert teil.
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Musikindustrie Neue Plattform für Betroffene sexualisierter Gewalt

Stand: 20.06.2023 06:00 Uhr

Nach den Rammstein-Vorwürfen haben sich Aktivistinnen zusammengeschlossen, um eine Plattform für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Diskriminierung in der Musikindustrie zu gründen.

Von Daniel Drepper und Elena Kuch, WDR/NDR

Ein bekannter deutscher Rapper, der einen Fan nach der Signierstunde mit ins Hotel nimmt und dort vergewaltigt. Ein Künstler, der einer Minderjährigen gegen ihren Willen ein Autogramm auf die Brüste gibt. Ein erfolgreicher Rapper, der eine Frau in seiner Wohnung mit dem Messer bedroht und sie im Anschluss missbraucht.

Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren begannen Aktivistinnen unter dem Namen "deutschrapmetoo" auf Instagram Dutzende Erfahrungsberichte zu veröffentlichen und zahlreiche Hinweise auf die problematischen Machtstrukturen in der Musikindustrie.

Auf einen Aufruf zu sexualisierter Gewalt in der Deutschrap-Szene meldeten sich damals innerhalb weniger Monate Hunderte Menschen, erzählen die Aktivistinnen im Gespräch mit NDR und "Süddeutscher Zeitung".

Sie hätten inzwischen eine Tabelle mit 70 Künstlern aus dem Deutschrap, die von Betroffenen beschuldigt werden. Zum Teil hätten sich mehrere Personen mit Vorwürfen zu den gleichen Künstlern gemeldet.

"Toxische Männlichkeit"

Mit allen Betroffenen hätten die Aktivistinnen im Anschluss Kontakt gehabt, viele der Erlebnisse haben sie dann anonymisiert auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlicht. Damit hätten sie auch den Hass vieler Fans und Rapper auf sich gezogen, berichten sie.

Schon in den ersten Tage nach der Veröffentlichung sei ihnen gewünscht worden, dass sie vergewaltigt werden. Instagram-Nutzer hätten eigens Accounts erstellt, um die Identität und Adressen der Aktivistinnen zu enthüllen.

"Die Bedrohung wurde sehr schnell sehr akut." Es habe auch einige Rapper gegeben, die ihre Follower auf die Aktivistinnen angesetzt hätten. "Das war wie eine kleine Armee toxischer Männlichkeit." Auch deshalb treten sie in der Öffentlichkeit nach wie vor nur anonym auf.

Netzwerk aus der Musikbranche

Die Veröffentlichungen zur Band Rammstein und deren Frontsänger Till Lindemann motivierten die Aktivistinnen nun dazu, ihr Projekt auszubauen. Seit Montagabend sammeln sie als "musicmetoogermany" Erfahrungsberichte nicht mehr nur für den Deutschrap, sondern für die ganze deutsche Musikszene.

"Wir haben uns in der Pflicht gesehen, einzugreifen", sagen die beiden Gründerinnen, denn Lindemann sei kein Einzelfall. Die Erfahrungsberichte wollen sie nach einer Prüfung anonym auf einer neuen Webseite und ihrem Instagram-Kanal veröffentlichen. Dahinter stehe nun ein Netzwerk aus der Musikbranche - von Aktivistinnen, Künstlerinnen und Künstlern sowie Interessenvertretungen, darunter auch die Agentur "Safe the Dance", die Music S women* und Music TH women*.

Künftig soll es auch Bildungsangebote und Informationen zu Diskriminierung und entsprechenden Anlaufstellen geben. Auch andere Erfahrungen zum Beispiel zu rassistischer Diskriminierung oder Transfeindlichkeit wollen die Aktivistinnen sichtbar machen.

Verschwiegenheitsverpflichtungen gefordert

Mehr als ein Dutzend Frauen hatte vor gut zwei Wochen in Gesprächen mit NDR und "Süddeutscher Zeitung" davon berichtet, wie sie von mehreren Menschen aus dem Umfeld von Lindemann gezielt angesprochen worden seien, häufig über Instagram oder auf den Konzerten selbst, um zu speziell für Lindemann organisierten Aftershowpartys zu kommen und dort mit ihm Sex zu haben. So sei es in verschiedenen Städten in ganz Europa geschehen, immer mit ganz ähnlichem Ablauf.

Zwei Frauen berichteten den Reporterinnen und Reportern zudem von mutmaßlichen sexuellen Handlungen, denen sie nicht zugestimmt hätten. Auf konkrete Fragen zu den Vorwürfen von NDR und SZ haben sich Rammstein und Lindemann bis heute nicht inhaltlich geäußert. Lindemann hat jedoch über einen Anwalt die Vorwürfe als unwahr bestritten.

Die Macherinnen von "musicmetoogermany" berichten, dass sie immer wieder von problematischen Situationen bei solchen Partys erzählt bekommen hätten, auch bei vielen Künstlern aus dem Deutschrap. So hätten junge Frauen etwa vor Betreten des Backstagebereiches Verträge unterschreiben müssen, die sie zur Verschwiegenheit verpflichteten.

"Wenn du 16 Jahre alt bist und in einen Backstagebereich kommst, dann ist es für dich erst mal sinnig. Du denkst: Ja klar, das ist ein Megastar und der braucht seine Privatsphäre", sagt eine der Aktivistinnen.

Hierarchie zwischen Fan und Künstler

Das Machtgefälle zwischen Künstlern und ihren Fans sei enorm: "Die Person kriegt erst mal per se einen Vertrauensvorschuss, weil du dich als Fan mit der Person lange beschäftigt hast." Wer in den Backstagebereich eingeladen werde, fühle sich oft auserwählt. Diese Hierarchie zwischen Fan und Künstler könne einseitig ausgenutzt werden.

Bei Festivals und Konzerten arbeiten viele Menschen für die Künstlerinnen und Künstler, vom Management bis zum Bühnenbauer. Das sind viele Personen, die potenzielle Grenzüberschreitungen mitbekommen könnten.

"Täterschutz ist ein Riesenthema", sagen die Gründerinnen von "musicmetoogermany". "Was man auf jeden Fall sagen kann: Diese Übergriffe können nur passieren, weil sehr, sehr viele Menschen weggucken, ganz bewusst weggucken, immer wieder."

Betroffenen Gehör schenken

Nicht erst seit den Vorwürfen gegen Lindemann wird die Frage diskutiert, inwiefern sich bei sexistischen Texten Künstler und Werk trennen lassen. Lindemann hatte im März 2020 ein Gedicht veröffentlicht, in dem er über die Vergewaltigungen bewusstloser Frauen schreibt. Die Aktivistinnen von "musicmetoogermany" kritisieren, dass solche Texte weiterhin gesellschaftlich akzeptiert werden.

"Künstler haben immer Einfluss", sagen die Aktivistinnen. "Gewisse Texte und Einstellungen schaffen eine Atmosphäre." Sie betonen jedoch, dass dies nicht bedeute, dass Künstler, die über Gewalt und Frauenverachtung singen, gefährlicher seien als andere. Aus den Zuschriften mutmaßlich Betroffener sexualisierter Gewalt im Deutschrap wissen sie, dass auch Künstler mit einem weicheren, positiven Image offenbar schon zu Tätern geworden seien.

Die Aktivistinnen sagen, sie hätten selbst Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht. Aus ihrer Erfahrung wüssten Sie, wie wichtig es sei, den Erfahrungen von Betroffenen Gehör zu schenken.

Sie hätten schon länger mit dem Gedanken gespielt, ihren Aktivismus auf andere Musikgenres auszuweiten. Durch die Berichterstattung und die mediale Aufmerksamkeit zu Rammstein sei jetzt der Zeitpunkt für sie gekommen.