Christine Lagarde
interview

Lagarde im Interview "EU muss die Muskeln spielen lassen"

Stand: 16.02.2019 17:18 Uhr

Die EU ist trotz aller Krisen eine wichtige Institution, sagt IWF-Chefin Lagarde im tagesschau-Interview. Sie dürfe deshalb auch ihre Muskeln spielen lassen, um internationale Regeln und Normen durchzusetzen.

tagesschau.de: Unsere multilateralen Institutionen stehen unter Druck, auch die regelbasierte Welthandelsordnung. Wie kann man den Bürgern vermitteln, dass diese Institutionen ihnen nutzen und nicht Projekte von Eliten für Eliten sind?

Christine Lagarde: Uns gehen die Sorgen aller Menschen etwas an, wir müssen diese ernst nehmen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Antworten zu liefern, zum Beispiel auf Fragen wie: Welchen Nutzen bringen wir den Menschen? Liefern wir die richtigen Antworten auf ihre Fragen, und wie können wir ihren Zwecken dienen? Es geht nicht um den eigenen Bauchnabel, sondern darum, was wir für andere tun können.

tagesschau.de: Sie fordern von der EU, sie müsse sich mehr um Wachstum und Wohlstand in den südlichen Länder Europas kümmern - was genau fordern Sie?

Lagarde: Das Projekt einer Europäischen Union hat viele neue Mitglieder inspiriert, beispielsweise wenn wir nach Mittel- und Osteuropa schauen. Allein das Ziel, EU-Mitglied zu werden, hat diesen Ländern die Kraft und den Antrieb für Reformen gegeben, für eine Verbesserung ihrer finanziellen Situation. Auch das verfügbare Einkommen in diesen Ländern hat sich auch enorm vermehrt. Diese Angleichung der Lebensumstände zwischen ärmeren und reicheren Ländern nennen wir Konvergenz.

Auch Portugal, Spanien, Italien, Griechenland und Zypern - die Staaten, die von der Krise besonders betroffen waren - brauchen diese Konvergenz. Natürlich haben diese Länder eine eigene Verantwortung, aber die Europäische Union muss sich wieder stärker auf sie konzentrieren und den Menschen dort Hoffnung geben, dass sich ihre Lebenssituation verbessert.

Christine Lagarde und Tina Hassel

Die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, Tina Hassel (r.) traf Lagarde am Rande der Sicherheitskonferenz.

Zwei wichtige Reformen

tagesschau.de: Aber was ist Ihr konkreter Ratschlag, damit sich die Lage in den südeuropäischen Ländern schnell und nachhaltig zum Besseren verändert?

Lagarde: Ich schlage folgende Dinge vor: Erstens kann nur der Privatsektor derzeit Investitionen und Arbeitsplätze in diese Regionen bringen. Dafür sind einige Reformen notwendig. Das ist zum einen die Flexibilität, damit die Unternehmen Anreize haben, neue Mitarbeiter einzustellen, weil sie wissen, dass sie nicht in einer Zwangsjacke stecken. Ein Land wie Portugal hat gezeigt, dass das tatsächlich funktioniert.

Der zweite Bereich, in dem ebenfalls noch viel getan werden muss, ist, wie ich es nenne, die Business-Freundlichkeit der Länder. Es gibt Länder in Südeuropa - zum Beispiel Griechenland - wo ein Konkursverfahren neunmal länger dauert als in Irland. Solche Verfahren müssen beschleunigt werden. Es gibt Länder, die bewiesen haben, dass das geht - wie zum Beispiel Portugal. Wenn Sie als Jungunternehmer in Lissabon wissen, dass Sie Ihr Unternehmen in fünf Tagen statt in einem Monat gründen können, ist das eine klare Ermutigung, dass sich die Dinge tatsächlich zum Besseren wenden können.

"Ein großartiges Projekt"

tagesschau.de: Sie denken also, dass die EU immer noch eine Erfolgsgeschichte ist, trotz der aktuellen Schwierigkeiten mit dem Brexit oder dem Streit mit der neuen italienischen Regierung?

Lagarde: Diese Union ist ein großartiges Unterfangen! Die Tatsache, dass sich alle Mitglieder zusammenschließen und geeint - ohne Abweichungen - mit dem Vereinigten Königreich diskutieren ist sehr beeindruckend. Wir sprechen hier von Ländern mit vielen verschiedenen Sprachen, vielen Kulturen, vielen unterschiedlichen Menschen, die zusammenkommen und den Wert erkennen, der im Laufe der Zeit aufgebaut wurde - und der es wert ist, sich zu vereinen. Also, ja: Die EU ist ein großartiges Projekt.

tagesschau.de: Sie erwähnten, Krisen hätten die EU bisher immer gestärkt, weil Reformprozesse losgetreten wurden. Ist das immer noch so, oder sind die aktuellen Herausforderungen größer als sonst?

Lagarde: Die EU-Zollunion ist die zweitgrößte Wirtschaftszone, der größte Handelsblock der Welt. Das darf sie auch ruhig mal zeigen. Sie muss auch mal ihre Muskeln spielen lassen, um die Regeln, die ihr zugutegekommen sind, durchzusetzen: Multilateralismus, Toleranz und Einheit in ihren Zielen.

Aber sie muss sich auch auf die Themen konzentrieren, die den Menschen wirklich wichtig sind: Wo sind unsere Grenzen? Welche Strategien haben wir hinsichtlich der Zuwanderung? Welche gemeinsame Energiepolitik können wir umsetzen? Haben wir eine Verteidigungsunion, und wie können wir diese entwickeln? Das muss diskutiert werden.

"Gute Umverteilungspolitik ist wichtig"

tagesschau.de: Könnte dieses Jahr - mit EU-Wahlen in diesen schwierigen Zeiten - ein Weckruf sein?

Lagarde: Auf jeden Fall. Wenn Handel gefördert, wenn die Konvergenz innerhalb der EU verstärkt wird, dann stärkt das den Sinn und Zweck der Union. Denn so kommt mehr Geld auf den Tisch. Eine gute Fiskal- und eine gute Umverteilungspolitik innerhalb der EU sind wichtig. Aber die Mitglieder müssen auch vor ihrer eigenen Türe kehren.

tagesschau.de: Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie haben Annegret Kramp-Karrenbauer, die neue Vorsitzende der CDU, hier schon zweimal getroffen. Liegt sie eher mit Angela Merkel auf einer Linie, oder setzt sie schon eine eigene Agenda?

Lagarde: Ich verstehe nicht, warum Kramp-Karrenbauer der Kanzlerin oder dem Bild, was wir von Merkel haben, gleichen sollte. Beide sind hochangesehene Frauen. Sie unterscheiden sich in ihrem Charakter, ihrer Geschichte und ihren Stärken. Ich war besonders von Kramp-Karrenbauers Rede beeindruckt. Sie ist sehr wortgewandt und hat sehr überzeugend argumentiert. Vergleiche bringen aber aus meiner Sicht nichts. Jeder von uns kann seinen oder ihren Teil beitragen, das Schöne an unserer Welt ist ihre Vielfalt.

Das Interview führte Tina Hassel, ARD-Hauptstadtstudio

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 15. Februar 2019 um 01:00 Uhr und 03:00 Uhr in den Nachrichten.