Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken Ende Mai 2023. Die Aufnahme entstand während eines Interview mit der Nachrichtenagentur dpa.
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SPD-Co-Vorsitzende Esken Die Wandelbare

Stand: 18.06.2023 08:15 Uhr

Seit bald vier Jahren steht Saskia Esken an der SPD-Spitze. Dass Olaf Scholz jetzt Kanzler ist, hat auch viel mir ihr zu tun. Wurde die einstige Hinterbänklerin unterschätzt?

Eine Analyse von Corinna Emundts, tagesschau.de

Da ist sie wieder, die eigentliche Saskia Esken: Die Bundestags-Netzpolitikerin und Informatikerin. Auf der Bühne der größten Digitalkonferenz Europas, der re:publica, diskutierte sie kürzlich mit dem YouTube-Deutschland-Chef Andreas Briese kontrovers über die demokratische Öffentlichkeit im Netz. Mit ihm ist sie natürlich per Du.

Hier ist die 61-Jährige in ihrem Element, lange war sie im Bundestag eine Abgeordnete der eher dritten Reihe, nur als Fachfrau für Digitales bekannt. Bei einer digitalen Plattform kommt sie regelrecht ins Schwärmen: "Twitter war mein digitales Zuhause", sagt sie und legt ihre Hand aufs Herz: "Ganz ehrlich, ich habe sie geliebt". Ausgestiegen sei sie dort, seit Twitter aus Profitgründen demokratieschädigenden Kräften dort freien Lauf lasse.

Fast vergessen könnten die Zuschauerinnen und Zuschauer in dieser Stunde des digitalen Fachsimpelns, in der es auch um KI und die politische Regulierung des Internets geht, dass hier eine Co-Vorsitzende der großen, zuweilen behäbigen Volkspartei SPD sitzt. Eine Partei, die mit Esken gerade ihr 160-jähriges Jubiläum im Willy-Brandt-Haus gefeiert hat - und die zum ersten Mal seit 2005 wieder Kanzlerpartei ist.

Stiller Aufstieg aus der dritten Reihe

Die der Parteilinken zugehörige Esken hat mit letzterem ziemlich viel zu tun: dass Olaf Scholz jetzt Kanzler ist. Hätte irgendjemand in- oder außerhalb der Partei die Prognose 2018 gewagt, welche Schachzüge Esken in den vergangenen Jahren für die SPD mit beeinflusste, wäre vermutlich ungläubiges Kopfschütteln die einzige Reaktion gewesen.

Denn dass ausgerechnet diese ehemalige Hinterbänklerin zusammen mit dem recht unbekannten Landespolitiker Norbert Walter-Borjans Ende 2019 bei der Stichwahl um den Parteivorsitz Olaf Scholz im Mitgliedervotum schlägt, war nicht gerade erwartbar. Noch viel weniger, dass sie - trotz ihrer lauten GroKo-Kritik und sehr viel linkeren Positionen als der damals in Regierungsverantwortung stehende Vizekanzler - just diesen Scholz ihrer SPD als aussichtsreichen Kanzlerkandidaten vorschlägt.

Es wurde die Geschichte eines, wenn auch knappen, Wahlerfolgs. Er trägt ihre Handschrift mit. Schon seit der ersten Doppelspitze haben beide einen engen Gesprächsdraht, sagt sie im Gespräch mit tagesschau.de, der Wettbewerb von damals spiele keine Rolle mehr.

Scholz hat ihr einiges zu verdanken

Scholz hat Esken also viel zu verdanken, wenn auch nicht ihr allein. Man könnte im Rückblick sagen, sie war Teil eines Beruhigungsprozesses der nach vielen Schröder- und GroKo-Jahren mit sich selbst hadernden Partei, der sich in vielen Wechseln an der Parteispitze zeigte. Der spontane Rücktritt der Realpolitikerin Andrea Nahles von Partei- und Fraktionsspitze habe auf die Sozialdemokraten wie ein Weckruf gewirkt, sagt einer aus dem Innenleben der SPD. Nahles fehlte nach einem schlechten Europawahlergebnis der Rückhalt, sie zog nach 13 Monaten an der Spitze ihre Konsequenz daraus. Danach war den meisten Sozialdemokraten klar, dass es so nicht weitergehen konnte.

Dass dann Esken zusammen mit Walter-Borjans die Partei über ein Mitgliedervotum gewinnen konnte, lag auch an der Unterstützung der Parteilinken, von Kevin Kühnert und den von ihm damals geführten Jusos - Esken vertrat konsequent auch deren Unmut über die ständige Kompromisspolitik der GroKo. Später wollte Esken davon nicht mehr soviel wissen - und entwickelte ein quasi freundschaftliches Verhältnis zur CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Ende der Indiskretionen

Als das neue Führungsduo - auch dieses Konstrukt ein Novum in der Parteigeschichte - es dann noch schaffte, über etwa sechs Wochen im Sommer 2020 die Entscheidung geheim zu halten, Scholz als Kanzlerkandidaten zu nominieren - da verschaffte es sich vollends Respekt in ihrer eigenen Partei. Denn diese war eher für Indiskretionen bekannt.

Inzwischen führt sie die Partei im vierten Jahr ziemlich geräuschlos, seit Ende 2021 mit dem ehemaligen SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, nachdem Walter-Borjans zur Wiederwahl nicht antrat. Auch dieses Duo funktioniert - und das auch Richtung Fraktion und Kanzleramt. Klingbeil, heute zu den pragmatischen, wirtschaftsliberalen "Seeheimern" der SPD zählend, erhielt das bessere Wahlergebnis, Esken gewann erneut nur drei Viertel der SPD-Delegierten. Das scheint sie nicht zu jucken. Vielmehr scheint es eben ihr Erfolgsgeheimnis, die Partei zu befrieden, indem mit ihr und Generalsekretär Kühnert alle Flügel abgedeckt sind.

Natürlich gebe es politische Meinungsverschiedenheiten, aber die kläre man intern, heißt es in Parteikreisen. Nach außen aber treten sie erkennbar abgesprochen auf und lassen keine unterschiedliche Positionierung durchblicken - anders als etwa jüngst das Grünen-Spitzenduo Ricarda Lang und Omid Nouripour zum EU-Kompromiss der Flüchtlingspolitik.

Auch in der Fraktion hat sich Esken flügelübergreifend Respekt verschafft: Sie habe sich enorm gemacht, heißt es da und ist nicht als vergiftetes Lob gemeint. Es dauert zuweilen, bis man von der Hinterbank an der exponierten Spitze ankommt - sprechfähig sein muss zu allen aktuellen politischen Themen, ob in der Fraktionssitzung, im Koalitionsausschuss oder in den Talkshows. Klingbeil gilt allerdings dort als der etwas geschmeidigere Kommunikator.

Sie lässt sich nicht beirren

Aber auch Esken fällt nach ein paar verbalen Ungeschicklichkeiten in den ersten beiden Jahren inzwischen durch nüchterne und so unterschiedlichen Parteipersönlichkeiten wie Scholz, Nancy Faeser oder Franziska Giffey gegenüber öffentlich loyale Kommunikation auf. Wohldosiert versuchen Esken, Kühnert und Klingbeil sich mit weitergehenden Forderungen an die Ampel zu richten - etwa beim Thema Steuererhöhungen für Besserverdienende an die Adresse des FDP-geführten Finanzministeriums oder bei der Debatte über die Viertagewoche.

Etwa, dass eine Steuerreform Richtung Besserverdiener weiter ein Thema sei, auch wenn es in der Parteien-Konstellation der Ampel mit der FDP doch kaum so scheint: Sie setze da weiterhin auf die "Kraft des Arguments", sagt Esken. "Und werde auch nicht müde, auch wenn ich damit in liberalen Kreisen Augenrollen erzeuge."

Für eine gewisse Unbeirrbarkeit und Beharrlichkeit ist Esken auch schon als Netzpolitikerin in ihrer Fraktion bekannt gewesen. Manche haben sie dabei womöglich unterschätzt.