Ein Mann macht bei einer Kundgebung mit dem Titel "Solidarität mit Gaza, Jerusalem und Sheikh Al Jarrah" auf dem Breitscheidplatz das Victory-Zeichen.
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Sicherheit Wie radikal sind Palästinenser-Gruppen in Deutschland?

Stand: 19.10.2023 09:02 Uhr

Mehrere palästinensische Vereinigungen rücken ins Visier deutscher Sicherheitsbehörden. Welche gibt es, wie gefährlich sind sie, und wie will die Regierung mit ihnen umgehen? Ein Überblick.

Die Gräueltaten der palästinensischen Hamas in Israel lösten in Deutschland weit überwiegend Entsetzen aus. Doch vereinzelt wurden die Verbrechen in pro-palästinensischen Kreisen gefeiert. Deutsche Sicherheitsbehörden befürchten, dass diese Haltung "anschlussfähig" sein könnte und insbesondere junge Muslime durch die Ereignisse in Gaza stark emotionalisiert werden könnten.

Wie Palästinenser in Deutschland den aktuellen Konflikt sehen

Annbritt Bakkenbüll, NDR, Mittagsmagazin, 19.10.2023 13:00 Uhr

Das Bundesinnenministerium geht deshalb von einer erhöhten Gefährdungslage aus. Vor diesem Hintergrund wurde unter anderem der Polizeischutz für jüdische Einrichtungen in Deutschland bereits verstärkt.

Unterdessen rücken mehrere radikale pro-palästinensische Gruppen oder Vereinigungen, die in Deutschland aktiv sind, in den Fokus der Sicherheitsbehörden. Bereits angekündigte Betätigungsverbote sollen schnellstmöglich vollzogen werden, kündigte das Bundesinnenministerium an. Voraussetzung für ein Verbot ist die Einstufung als "erwiesen extremistisch" durch den Verfassungsschutz. Welche Gruppierungen gibt es und wie werden sie aktuell bewertet?

Hamas

Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Donnerstag vergangener Woche ein Betätigungsverbot für die Hamas angekündigt. Die Hamas verfügt nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden über keine organisierten Strukturen in Deutschland. Sie ist seit 2001 EU-weit als Terrororganisation eingestuft und in Deutschland verboten. Seit 2021 dürfen auch keine Hamas-Symbole oder Fahnen (grün mit weißen arabischen Schriftzeichen, die das islamische Glaubensbekenntnis darstellen) mehr gezeigt werden. Die Hamas finanziell zu unterstützen ist ebenso verboten.

Das angekündigte Betätigungsverbot ist deshalb vor allem eine Bekräftigung bereits geltender Bestimmungen. Es zielt auch auf Einzelpersonen ab, die die Hamas von Deutschland aus unterstützen und mitunter auch andere Vereinigungen und sogar Hilfsvereine dafür nutzen sollen.

Samidoun

Auch für diese Gruppierung hatte Bundeskanzler Scholz ein Betätigungsverbot angekündigt. Samidoun verfügt nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden über keine festen Strukturen in Deutschland. Die Gruppierung ist ein Netzwerk zur Unterstützung von inhaftierten Palästinensern und ist aus der marxistisch-leninistischen PFLP, der Volksfront für die Befreiung Palästinas, hervorgegangen.

Unmittelbar nach dem Anschlag, den die Hamas auf Israel verübte, feierten Samidoun-Anhänger in Berlin-Neukölln die Gräueltaten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte erst wenige Tage vorher formal mit der Beobachtung der Gruppierung begonnen und sie nach Informationen von ARD-Hauptstadtstudio und SWR unmittelbar als "erwiesen extremistisch" eingestuft. Der Berliner Verfassungsschutz hat Samidoun schon deutlich länger auf dem Radar als eine "erwiesen extremistische Gruppierung", da sie vor allem in Berlin aktiv ist.

Samidoun reagierte "empört" auf das angekündigte Betätigungsverbot. Auf seiner Website spricht das Netzwerk von einer "rassistischen Hetzkampagne" der deutschen Presse "gegen palästinensische und arabische Jugendliche in Deutschland und insbesondere gegen das Samidoun-Netzwerk". Der deutsche Staat sei Partner bei der Diffamierung und Entmenschlichung des palästinensischen Volkes und bei "mörderischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Besatzungsregimes".

PFLP

Die Volksfront für die Befreiung Palästinas, kurz PFLP, besteht seit 1967 und verbreitete bis in die 1970er-Jahre unter anderem durch zahlreiche Flugzeugentführungen Angst und Schrecken - darunter auch die blutige Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" im Jahr 1977. Bis heute begeht sie Anschläge in Israel. Sie wird seit 2002 von der EU als Terrororganisation gelistet.

In Deutschland ist die PFLP bislang nicht verboten, da sie nach Einschätzung des Bundesamts für Verfassungsschutz hierzulande "nicht terroristisch tätig" ist. Allerdings, so heißt es im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022, genießen ehemalige Terroristinnen und Terroristen bei der Anhängerschaft in Deutschland große Anerkennung "und werden gezielt zur Indoktrinierung nach Deutschland eingeladen".

Der PFLP in Deutschland werden rund 100 Personen zugerechnet. Sie verfolgt eine marxistisch-leninistische Ideologie, will einen sozialistischen Palästinenserstaat und spricht Israel sein Existenzrecht ab.

BDS

BDS steht für "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" und ist eine internationale palästinensische Bewegung, die seit 2005 besteht und auch in Deutschland eine aktive Anhängerschaft hat. Die Bewegung ruft Wissenschaft und Studierende dazu auf, nicht mit israelischen Universitäten und Instituten zusammenzuarbeiten. Auch kulturelle Institutionen in Israel sollen boykottiert werden.

Sie richtet sich außerdem gegen Unternehmen, denen BDS nachsagt, "Israels Politik der Besatzung, Kolonisierung und Apartheid" zu unterstützen und fordert internationale Sanktionen gegen Israel. Die BDS-Bewegung hat über Palästinenser hinaus auch in Deutschland Anhänger bis hinein ins sogenannte bürgerliche Milieu. Die Bewegung wird nach Informationen von ARD-Hauptstadtstudio und SWR vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet und als "extremistischer Verdachtsfall" geführt.

Der Bundestag nahm im Mai 2019 einen fraktionsübergreifenden Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und großen Teilen der Grünen an, in dem die BDS-Bewegung als "allumfassender Boykottaufruf" bezeichnet wird und scharf verurteilt wird. Der Bundestag, so heißt es, trete damit jeder Form des Antisemitismus schon im Entstehen entschlossen entgegen. Projekte, die die BDS-Bewegung unterstützen, dürften nicht finanziell gefördert werden, heißt es. Gegen diesen Antrag hatten BDS-Aktivisten vor dem Berliner Oberverwaltungsgericht erfolglos geklagt.

Aktuell organisiert BDS bundesweit Demonstrationen und "Mahnwachen für Palästina", die zum Teil verboten wurden.