Eine Lehrerin schreibt in einer Grundschule Wörter mit "Sp" am Anfang an eine Tafel.

Schulen für Sonderpädagogik Wo der Lehrermangel besonders schmerzt

Stand: 14.03.2024 17:07 Uhr

Wie kann man mehr Lehrer an die Schulen bringen? Mit dieser Frage beschäftigen sich die Kultusminister der Länder. Der Personalmangel ist groß. Besonders dramatisch sind die Folgen an Schulen für Kinder mit Lernbeeinträchtigungen.

Von Thomas Denzel, SWR

Lennons Eltern bringen ihn mit dem Camping-Bus zur Schule. Die Schiebetür geht auf und Lennon geht schnurstracks auf Tim Zellhöfer zu, der auf dem Schulhof auf ihn wartet. Manchmal muss er lange warten, weil Lennon nur dann zur Schule kommt, wenn seine Eltern ihn zur Autofahrt bewegen können. Lennon ist 13 Jahre alt und Autist.

Zellhöfer ist Eingliederungshelfer an der Helene-Schoettle-Schule in Stuttgart - einer Schule für Kinder und Jugendliche mit geistigen Einschränkungen. Für Lennon ist er der Hauptgrund, warum er eigentlich ganz gern zur Schule geht. Zellhöfer ist hier seine wichtigste Bezugsperson.

Insgesamt aber braucht es zwei Personen, die Lennon betreuen, weil er manchmal die Kontrolle über sich selbst verliert. "Es kann sonst passieren, dass er sich selbst gefährdet", sagt Helene Eller, die als Sonderpädagogin mit dabei ist. Lennon könne sich verletzen oder renne einfach weg.

Schulkinder müssen zuhause bleiben

Doch die Schule hat zu wenig Personal, nur 80 Prozent der Stellen sind besetzt. Das hat Folgen, die auch Lennon und seine Eltern spüren. "Hin und wieder bekommen wir einen Anruf, ob es möglich ist, dass unser Junge zu Hause bleibt", erzählt seine Mutter. "Das bringt das Alltagsleben extrem durcheinander und sein Nervenkostüm dann auch."

Lennon braucht feste Strukturen. Lernen kann er nur im Einzelunterricht. Die Sinneseindrücke einer Klassen-Situation würden den Jungen überfordern.

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Seine Betreuer sprechen leise mit ihm. Immer wieder gehen sie mit ihm eine kurze Runde spazieren. Oder der Junge muss sich einen Moment hinlegen. Dazwischen macht Lennon kurze Unterrichtseinheiten. Es geht um Jahreszeiten und Wochentage, um Zahlen und Buchstaben und er macht Koordinationsübungen.

Größere Klassen - mehr Aggression

An der Helene-Schoettle-Schule unterrichten sie auch im Klassenverbund. Doch auch diese Kinder und Jugendlichen brauchen viel Aufmerksamkeit und individuelle, an ihre sehr unterschiedlichen Defizite angepasste Aufgaben. Die Schule versucht, die Klassen so klein wie möglich zu halten.

Stefan Kienhöfer unterrichtet Mathematik. Heute hat er große Abbildungen von Scheinen und Münzen mitgebracht, es geht um das Berechnen von Geldbeträgen. Zehn Jungen und Mädchen sind in der Klasse, alle zwischen 15 und 17 Jahre alt, einige mit Autismus und Down-Syndrom. Damit ist die Klasse eigentlich zu groß - sechs Schülerinnen und Schüler pro Klasse ist die offizielle Vorgabe.

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Schon seit drei Jahren sei die Schule in einer prekären Situation, sagt Schulleiter Andreas Thiemke. "Wir bieten keinen Nachmittagsunterricht mehr an, sondern nur noch eine Notbetreuung", erklärt er. Ursache sei nicht nur der Mangel an Fachpersonal, sondern auch eine Zunahme an Autismuserkrankungen, die weltweit festzustellen sei. Die Schülerzahlen stiegen deshalb seit Jahren an.

Dass man die Klassen deutlich größer machen musste, habe spürbare Auswirkungen im Alltag. In den Klassen komme es häufiger zu Konflikten oder aggressivem Verhalten.

Helfen Quereinsteiger?

Aggressive Auseinandersetzungen gibt es heute nicht in Stefan Kienhöfers Klasse. Es sei ein ganz normaler Tag, sagt er. Und doch geht es immer wieder turbulent zu. Ein Mädchen fühlt sich von ihren Nachbarn bedrängt und verlässt mehrfach den Raum. Eine andere Schülerin verschränkt die Arme vor ihrem Gesicht, auch sie will nicht weiterarbeiten.

In solchen Momenten ist Stefan Kienhöfer froh, dass ihm Annabel Kraus zur Seite steht. Sie kümmert sich um die beiden Mädchen, geht mit ihnen vor die Tür und beruhigt sie. Allerdings zeigt sich auch hier, dass die Schule mit wenig Personal zurechtkommen muss: Annabel Kraus ist noch keine vollständig ausgebildete Lehrerin, sie befindet sich noch im Referendariat.

Kienhöfer hat gar keine pädagogische Ausbildung. Er ist ein sogenannter Quereinsteiger, hat vergangenes Jahr noch als Architekt gearbeitet und sich dann mit 57 Jahren beruflich neu erfunden. "Ich wollte mal etwas Anderes machen", erklärt er seine Entscheidung. "Etwas, wo es nicht nur um Kosten und Termine geht, etwas, wo ich den Eindruck habe, ich helfe jemandem weiter." Das tue er jetzt, aber er komme an seine Grenzen.

"Schon an meinem ersten Tag hier habe ich sofort als Lehrer gearbeitet, ohne dass ich irgendeine Ausbildung bekommen habe. Ohne die Unterstützung des Kollegiums wäre das sehr schwierig", berichtet er.

Der Quereinstieg fällt schon an allgemeinbildenden Schulen nicht leicht. An Einrichtungen wie der Helene-Schoettle-Schule braucht man neben pädagogischen auch medizinische Fachkenntnisse. Manche Kinder bekommen Krampfanfälle oder müssen regelmäßig Medikamente nehmen.

Ist der Lehrerberuf attraktiv genug?

Quereinsteiger sind eine Strategie, mit der die Kultusministerien versuchen, das Personalproblem an den Schulen zu lösen. Einige andere Ideen: Sie erwägen auch Pädagogen, die nur ein Fach studiert haben, das sie dann unterrichten können, zuzulassen. Und sie wollen Bewerbern aus dem Ausland den Einstieg in den Lehrerberuf erleichtern. Zudem sollen Lehrerinnen und Lehrer künftig weniger Teilzeit arbeiten.

Der letzte Punkt ist sehr umstritten. "Ich bin als Arbeitgeber schlecht beraten, wenn ich bei Personalmangel die Arbeitsbedingungen weniger attraktiv mache", sagt etwa Monika Stein, die baden-württembergische Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Der Beruf müsse stattdessen attraktiver werden. Nur so könne verhindert werden, dass immer weniger diese Laufbahn wählen oder während des Studiums abspringen.

"Es wird viel getan, aber noch nicht genug", findet auch Schulleiter Thiemke. Er begrüßt es, dass in Baden-Württemberg zusätzliche Studienplätze für Sonderpädagogik geschaffen wurden. Es brauche aber noch mehr davon. Und er empfiehlt, die Zugangshürden zu senken, weniger auf die Schulnoten zu schauen und mehr auf die persönliche Eignung.

Auch Quereinsteiger Stefan Kienhöfer hat Wünsche an die Politik: Er mache zwar immer wieder kurze Fortbildungen. Was aber wirklich helfen würde, wäre ein zwei- bis dreimonatiger Intensiv-Workshop, sagt er. Dafür würde er in dieser Zeit sogar Abstriche beim Verdienst in Kauf nehmen.

Wie viel er seiner Klasse schon heute und ohne weitere Qualifikation bedeutet, zeigt sich am Ende der Mathematik-Stunde. Schülerin Charlotte steht auf und sagt: "Also Herr Kienhöfer, ich möchte herzlichen Dank sagen. Du bist ein toller Lehrer!"