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interview

33 Jahre Deutsche Einheit "Ein Ostbeauftragter ist nicht mehr zeitgemäß"

Stand: 02.10.2023 14:21 Uhr

33 Jahre nach der Deutschen Einheit zieht der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Interview ein ernüchtertes Fazit. Wo er dem Ostbeauftragten "völliges Versagen" vorwirft und was er stattdessen fordert.

tagesschau.de: Herr Kowalczuk, in den Neunzigern waren Sie Mitglied der Enquete-Kommission zur "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit". Haben wir diese Überwindung heute abgeschlossen?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Im Gegenteil. Wir hatten eine sehr einfache Vorstellung von der Bewältigung der SED-Diktatur. Die parlamentarische Demokratie war für uns etwas, wonach mehr oder weniger alle streben - und die auch mehr oder weniger selbsterklärend ist. Da haben wir uns stark getäuscht. Auch ich.

Die Akzeptanz der bundesdeutschen Demokratie schwindet - nicht nur im Osten, auch im Westen. Das gilt nicht nur für den Zustand, sondern auch für die Demokratie an sich. Die Sehnsucht nach autoritären Staatsstrukturen wird immer stärker.

Ilko-Sascha Kowalczuk
Zur Person

Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker und hat mit "Endspiel" und "Die Übernahme" mehrere Standardwerke zur Revolution in der DDR und zum Vollzug der deutschen Einheit geschrieben. Zuletzt erschien der erste Teil seiner Walter-Ulbricht-Biografiie.

Geld ist nicht alles

tagesschau.de: Was ist falsch gelaufen?

Kowalczuk: Den Akteuren war damals nicht klar, dass die deutsche Einheit eben nicht nur als fiskalischer und politischer Prozess zu begreifen war, sondern auch als ein kultureller Umbruch, eine kulturelle Neubestimmung. Erst ab etwa 2019 ist die Ost-Debatte davon weggekommen zu sagen: "Wir haben in den Osten über eine Billion Euro gesteckt, jetzt haltet endlich Eure Klappe, es muss Euch doch gut gehen!"

Neue Debattenteilnehmer wie der Soziologe Steffen Mau oder der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann waren nicht mehr Akteure der Einheit. Sie sind Jahrgang '67, '68, so wie ich und haben sich nach 1990 erstmal um ihr Fortkommen gekümmert, bevor sie in die Debatte eingriffen. Ich war lange eine Ausnahme.

Dazu kommen Journalistinnen wie Jana Hensel oder Sabine Rennefanz und zuletzt die Autorin Anne Raabe und die Historikerin Katja Hoyer. Das sind unterschiedliche Generationen und teils total entgegengesetzte Perspektiven auf die DDR und auf den Transformationsprozess. Die vermessen die Debatte neu.

tagesschau.de: Welche Rolle spielt dabei die AfD?

Kowalczuk: Dass wir diese neue Debatte führen, hängt ganz eng mit dem Aufstieg der AfD zusammen, mit dem Aufstieg von Rassismus in die Mitte der Gesellschaft und von Rechtsextremismus - insbesondere in Ostdeutschland, aber nicht nur dort.

Für die Debatte selbst leistet die AfD aber nichts. Wenn sie von der "Wende 2.0" krakeelt, ist das reine Ideologie.

tagesschau.de: Die Ost-Renten wurden an die West-Rente angeglichen, auch die Löhne nähern sich einander an, wenn auch langsam. Welchen Einfluss hat das auf die Debatte? 

Kowalczuk: Wir haben seit zehn, 15 Jahren denselben Befund: Fragt man Ostdeutsche, "Wie geht es Ihnen persönlich?", antworten zwei Drittel mit "gut bis sehr gut". Fragt man die gleichen Ostdeutschen, "Wie geht es Ostdeutschland?", sagen wieder zwei Drittel "schlecht".

Die finanziellen, sozialen Verhältnisse, in denen Menschen leben, sind wichtig, aber eben nicht alles. Ein Arbeitsplatz kann materiell ersetzt werden. Eine soziale Beziehung, ein Kino vor der Haustür, ein Bus, ein Arzt, den man kennt, nicht.

"Der Ostbeauftragte agiert hilflos"

tagesschau.de: Das würde der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, wohl auch so sagen.

Kowalczuk: Der Ostbeauftragte agiert hilflos. Nehmen Sie seinen Jahresbericht aus dem vergangenen Jahr. Das war eine Essaysammlung. Dafür brauche ich keinen Ostbeauftragten, dafür gibt es die Bundeszentrale für politische Bildung. Und ehrlich gesagt: Ein Ostbeauftragter ist nicht mehr zeitgemäß.

tagesschau.de: Wie meinen Sie das?

Kowalczuk: Der Osten ist nicht der homogene Raum, zu dem er 1990 gemacht wurde - und für den ihn viele Westler noch heute halten. Die strukturellen, sozioökonomischen Herausforderungen, die man zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen hat, sind denen in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt viel ähnlicher als die Verhältnisse zwischen Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Was wir brauchen, ist ein Beauftragter für gleichwertige Lebensverhältnisse, so wie das Grundgesetz sie vorsieht.

Versagen beim Zukunftszentrum

tagesschau.de: Der Bund will in Halle, Sachsen-Anhalt, ein "Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation" bauen. Sie waren Mitglied einer Regierungskommission, aus der der Vorschlag dafür kam. Dennoch haben Sie gemeinsam mit ihrer Kommissionskollegin, der ehemaligen Bürgerrechtlerin Maria Nooke, den Ostbeauftragten auch hier scharf kritisiert. Warum?

Kowalczuk: Bis heute weiß niemand, was in diesem Haus eigentlich stattfinden soll. Es gibt keine öffentliche Debatte. Eine Katastrophe! Die Zukunft des Zukunftszentrums hängt in der Luft. Jetzt soll ein Architekturwettbewerb ausgelobt werden, ohne dass jemand weiß, wozu eigentlich. Der Ostbeauftragte versagt da völlig.

33 Jahre Deutsche Einheit - oder doch nicht?

Christian Stichler, NDR, tagesthemen, 02.10.2023 23:15 Uhr

tagesschau.de: Was werfen Sie ihm vor?

Kowalczuk: Offenbar hat man Angst, dass das Zentrum Haushaltskürzungen zum Opfer fallen könnte, und schlägt deshalb erstmal mit dem Architekturwettbewerb Pflöcke ein. Aber wenn man wirklich dieses Projekt will, dann geht das nur über öffentliche Debatten. Bislang gab es eine geschlossene Veranstaltung in Halle. Wie man dieses Thema sozusagen nicht jeden Tag auf dem Marktplatz verhandelt, ist mir vollkommen unverständlich.

tagesschau.de: Was wäre da zu diskutieren?

Kowalczuk: Für das Zukunftszentrum sollen Hunderttausende im Jahr nach Halle pilgern, möglichst aus ganz Europa. Da muss ich diskutieren: Wie schaffe ich das überhaupt? Was, was soll da passieren? Was für Kunstausstellungen brauche ich? Brauche ich vielleicht ein eigenes Theater oder Kino? Wie kriege ich Kinder und Jugendliche dorthin? 

Und diese Debatten dürfen nicht nur in Halle stattfinden, sondern auch in Nürnberg, Hamburg, Dresden, auf Rügen, auch in Danzig und Paris. Das soll auch etwas Integratives sein. Ich kann das Konzept für das Haus nicht den Architekten und der Ministerialbürokratie überlassen.

Viele nehmen Wut nicht zur Kenntnis

tagesschau.de: Selbst ein Bestseller-Autor wie Dirk Oschmann verkauft von "Der Osten - eine westdeutsche Erfindung" nach eigenen Angaben deutlich mehr Bücher im Osten als im Westen. Wie realistisch sind integrative Debatten in Gesamtdeutschland?

Kowalczuk: In dem Buch gibt es nichts, was nicht vorher schon tausend Andere gesagt haben. Das sagt Oschmann auch. Was aber völlig neu ist, dass ein Literaturprofessor einen derart unversöhnlichen, wutentbrannten undifferenzierten Ton anschlägt. Viele haben das als ein Manifest gelesen. 

In Bayreuth aber, wo ich auch lebe, oder in Stuttgart oder Hamburg zucken selbst Intellektuelle beim Namen Oschmann mit den Schultern. An den Universitäten im Westen nehmen viele diesen Wutanfall nicht zur Kenntnis.

tagesschau.de: Also diskutieren Ostdeutsche vor allem weiter mit Ostdeutschen. Da kann man doch die Debatten einstellen, oder?

Kowalczuk: Im Westen gibt es ein großes Desinteresse am Osten. Wenn ich in Saarbrücken groß geworden wäre, würde ich mich auch mehr für Paris und Barcelona interessieren als für Dresden und Leipzig.

Ostler interessieren sich doch auch nicht für Saarlouis und Essen. Das müssen sie nicht. Sie können andererseits aber auch nicht erwarten, dass sich die Welt nur um sie dreht. Wir müssen dieses Desinteresse als eine gewisse Normalität verstehen.

Das Gespräch führte Thomas Vorreyer, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 02. Oktober 2023 um 14:00 Uhr.