Antisemitismus in Deutschland "Wir fühlen uns als Zielscheiben"
In der Nacht gab es einen Angriff mit Molotow-Cocktails auf eine Synagoge in Berlin-Mitte. Sie fühle sich nicht mehr sicher, sagt die Geschäftsführerin der Gemeinde, Anna Segal, im Interview mit dem RBB.
RBB: Wie haben Sie von dem Brandanschlag erfahren?
Anna Segal: Ich war im Bett und das Handy von meinem Mann hat geklingelt. Mein Mann arbeitet auch hier. Er ist an oberster Stelle für dieses Gebäude zuständig und wurde von den Sicherheitskräften angerufen. Er wurde aus dem Schlaf gerissen und beim Wort "Brandanschlag" bin ich dann auch wach geworden und habe seitdem kein Auge zumachen können.
RBB: Was ging Ihnen durch den Kopf, als sie das gehört haben?
Segal: Horrorszenarien. Bilder, dass alles abbrennt. Mein Mann ist dann auch sofort hingerannt und hat sich dann auch relativ schnell zurückgemeldet, dass es keine größeren Schäden gibt und das beseitigt werden konnte, sodass ich ein bisschen ausatmen konnte.
Aber natürlich bringt das trotzdem nicht wirklich Beruhigung, wenn man solchen Angriffen ausgesetzt ist. Und danach ist noch einmal ein Angriff hier direkt vor der Tür passiert, trotz der ganzen Absperrungen und Sicherheitskräfte vor Ort. Es ist hier noch jemand vorgefahren und hat versucht, etwas anzustellen. Deswegen hat man auch noch einmal mehr das Gefühl, obwohl so viel Sicherheit da ist, ist man trotzdem nicht sicher.
Anna Segal ist Geschäftsführerin der Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte.
"Ganz neues Level an Unsicherheiten"
RBB: Was ist Ihr derzeitiges Gefühl vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Israel? Fühlen Sie sich in Berlin noch sicher?
Segal: Nein. Ich fühle mich nicht mehr sicher. Und die Gemeinde, unsere Mitglieder, soweit ich das mitbekomme … Es gibt sehr viele Gespräche darüber, sehr viel Austausch: Wir fühlen uns nicht sicher. Wir fühlen uns angegriffen. Wir fühlen uns als Zielscheiben.
Es gab auch in der letzten Woche viele Vorfälle in der Stadt, dass Wohnhäuser, wo Juden wohnen, mit Davidstern markiert waren. Zum Teil auch von unseren Gemeindemitgliedern. Das gibt einem noch mehr das Gefühl, Zielscheibe zu sein und bringt sehr starke Erinnerungen von den Pogromen und von der Kristallnacht, der wir ja bald wieder gedenken werden, mit sich.
Seitdem ich das mitbekommen habe, habe ich mich jeden Tag, als ich aus dem Haus gegangen bin, umgedreht und geschaut: Ist auf meine Tür auch irgendetwas aufgesprüht oder draufgemalt? Das hatte ich noch nie in den 26 Jahren, die ich in Deutschland lebe. Deswegen ist das schon ein ganz neues Level an Unsicherheiten, euphemistisch ausgedrückt, die wir hier erleben.
"Wo soll das Ganze hinführen?"
RBB: Die Gemeinde ist ja schon abgeschirmt. Es gibt einen Polizeidienst, es gibt Kameras. Man kommt nicht so leicht rein. Wie gehen die Gemeindemitglieder damit um? Muss man jetzt noch weiter aufstocken?
Segal: Der Grundkonsens ist auf jeden Fall: Man muss hier mehr aufstocken, damit solche Sachen nicht vor unserer Tür direkt passieren können. Wir hatten, man könnte sagen, Glück im Unglück, dass diese Vorfälle nachts oder noch früh morgens passiert sind, wo noch wenig Verkehr vor dem Haus war.
Wir haben sehr viele Leute im Haus - sowohl Schule als auch Kita, Gemeinde, Rabbinerseminar. Es gehen mehrere 100 Menschen hier täglich ein und aus. Das heißt, natürlich sind sie auch draußen vor der Gemeinde. Und da fühlen wir uns noch mehr exponiert und noch weniger sicher.
Wenn man drin ist, nach den ganzen Sicherheitskontrollen fühlen sich die meisten schon relativ gut geschützt. Aber natürlich müssen wir uns weiterhin auch im Alltag privat auch in der Stadt bewegen können, einkaufen gehen und unseren alltäglichen Dingen nachgehen. Und da haben wir keine Sicherheit, keine Kamera und keinen Wachschutz. Das bringt schon ein sehr, sehr großes Gefühl der Angst und der Unsicherheit. Und überhaupt die Frage: Wo soll das Ganze hinführen und was ist die Zukunft der Juden in Berlin und in Deutschland?
"Eine neue Realität"
RBB: Hat sich Ihr Verhalten, das Ihrer Familie, vielleicht von Freunden und Verwandten hier in Berlin durchaus schon verändert?
Segal: Ja, unser Verhalten ist auf jeden Fall vorsichtiger und unsicherer geworden. Die jüdische Schule, in die auch meine Kinder gehen: Normalerweise tragen die Kinder Schuluniform, die wurde seit vergangener Woche aber ausgesetzt, damit Kinder nicht auf der Straße erkennbar sind.
Und meine Kinder kriegen schon mit, dass etwas passiert. Sie wissen natürlich auch, was in Israel los ist. Wir können sie nicht ganz davon abschotten. Die Reaktion von den Kindern selbst war, dass mein ältester Sohn zu dem jüngeren sagt: Du darfst jetzt auf gar keinen Fall mit deiner Kippa rausgehen, du musst unbedingt unerkenntlich sein draußen.
Das macht schon etwas mit uns als Eltern. Von mir kam diese Ansage nicht. Normalerweise bewegen wir uns hier in der Stadt, vor allem in diesem Bezirk, recht gut erkennbar. Die Kinder laufen zum Teil mit ihrer Kippa auf dem Kopf, auch mit den Schaufäden in ihrer Schuluniform. Also wir sind hier wirklich nicht zu übersehen. Aber dass schon zwölfjährige Kinder verstehen: Jetzt muss ich mich sofort verstecken. Das ist ein neues Dasein. Eine neue Realität, die wir so noch nicht erlebt haben.
"Das ist unser Zuhause"
RBB: Was hat das mit Ihnen als Mutter gemacht, als Ihre Söhne dieses Gespräch geführt haben?
Segal: Das ist eine tiefe Trauer. Das wirft sofort die Frage auf: Was wird noch kommen? Haben wir überhaupt eine Zukunft hier? Wir versuchen, unsere Kinder als selbstbewusste jüdische Menschen zu erziehen, dass sie sich nicht verstecken müssen. Und wir leben das denen auch vor.
Wenn wir merken, dass es dann schon ohne unsere Ansagen die Kinder selbst so empfinden, dass sie sich verstecken müssen, fragt man sich sofort: Sollen wir uns etwas anderes überlegen. Aber der zweite Gedanke ist: Wo überhaupt auf der Welt sind heutzutage Juden sicher? Wahrscheinlich nirgendwo. Nicht in Israel und auch nicht woanders in Europa.
Das ist unser Zuhause. Meine Kinder sind alle hier geboren. Ich bin auch schon seit über 26 Jahren hier und fühle mich hier auf jeden Fall heimisch. Ich habe kein anderes Zuhause. Deswegen will man sich auch nicht so leicht von irgendwelchen Social-Media-Posts oder Hassnachrichten oder so von seinem Zuhause vertreiben lassen, verabschieden und verstecken müssen. Das sind wirklich zwei sehr starke Emotionen, die miteinander kämpfen.
"Man fühlt sich auf der Straße unsicher"
RBB: Wie gehen die Gemeindemitglieder damit um? Werden jetzt Kinder schon nicht mehr hier in die Schule oder die Kita geschickt?
Segal: Ja, auf jeden Fall. Die Schule, die Kita und auch die Synagoge mussten in der letzten Woche jeden Tag aufs Neue von den zuständigen Sicherheitskräften die Sicherheitslage bewerten lassen. Wir entscheiden jeden Tag aufs Neue, ob die Schule und die Kita offen bleiben.
Es war eine große Frage. Es wurde im Prinzip so entschieden, dass wir versuchen, unseren Betrieb möglichst weiter zu erhalten und möglichst unseren Alltag auch zu leben und uns nicht davon abbringen zu lassen. Allerdings wurde es von der Schule aus den Kindern freigestellt, ob sie die Schule besuchen oder zu Hause bleiben. Und zahlreiche Kinder wurden auch zu Hause behalten. Gerade an dem letzten Freitag, der ja als "Tag des Terrors" angekündigt wurde. Da waren die meisten Kinder sowohl von der Schule als auch der Kita zu Hause geblieben. Ich glaube, die Auslastung war so bei einem Fünftel in beiden Einrichtungen.
Auch gerade am Schabbat waren sehr wenig Leute da. Viele haben sich entschieden, lieber zu Hause zu bleiben, und den Gang in die Synagoge nicht gewagt. Weil man sich vor allem auf der Straße unsicher fühlt, nicht so sehr innerhalb der Gemeinde.
Es gab auch Bestrebungen und Initiativen aus der Gemeinde, uns selbst zu organisieren, zu einem improvisierten Wachschutz. An mich wurde schon die Bitte herangetragen, die nötige Ausrüstung dafür zu besorgen. Ich hätte nie gedacht, dass es mal so weit kommt, dass ich kugelsichere Westen google und schaue, was die kosten und wie die Lieferzeiten sind. Und ob wir es noch rechtzeitig schaffen, uns damit bis Freitag auszustatten.
Das Gespräch führte Thomas Rostek, RBB. Es wurde für die schriftliche Version gekürzt und redigiert.