Interview

Interview mit NSU-Ausschussvorsitzendem Edathy "Verantwortungsloses Bescheuertsein"

Stand: 09.05.2013 13:24 Uhr

In München stehen derzeit Beate Zschäpe und andere mutmaßliche Helfer des NSU vor Gericht. In Berlin endet nächste Woche die politische Aufarbeitung des Versagens der deutschen Sicherheitsbehörden. Von einer "unglaublichen Zusammenballung behördlicher Fehlleistungen" spricht der Vorsitzende des NSU-Ausschusses Edathy im Interview mit dem NDR - und zieht eine Bilanz der Auschussarbeit.

NDR: Die vielen Fehler bei Verfassungsschutz und Polizei haben aufschrecken lassen. Gab es aus ihrer Sicht in irgendeiner Form Unterstützung oder gar eine Kooperation des NSU oder des NSU-Umfelds mit staatlichen Behörden?

Sebastian Edathy: Wir haben keine Hinweise dafür, dass es, was schlimm genug ist, sich um mehr gehandelt haben könnte als um eine massive Zusammenballung unglaublicher behördlicher Fehlleistungen. Für ein bewusstes Wegschauen, was das Agieren des Trios betrifft oder gar für eine aktive Unterstützung gibt es keinerlei Indizien. Ich kann allerdings verstehen, dass viele Menschen das in meinen Augen beispiellose Versagen der deutschen Sicherheitsarchitektur für so irritierend halten, dass dieses Anlass für Spekulationen bietet. Wir haben bisher nichts gefunden, was solche Spekulationen belegt.

NDR: War das ein "strukturelles Versagen"?

Edathy: Wir haben es mindestens zu tun mit einem multidimensionalen Versagen, das mehrere Ursachen hat, die nicht allein in strukturellen Defiziten begründet sind. Neben einer mangelhaften Kooperation zwischen deutschen Sicherheitsbehörden ist mein Befund eindeutig, dass darüber hinaus die Gefahr eines zunehmend gewaltbereiter gewordenen Rechtsextremismus massiv unterschätzt worden ist. Und zugleich sind die Mordermittlungen mit Blick auf die neun Mordopfer mit einem türkischen beziehungsweise griechischen Familienhintergrund nicht vorurteilsfrei geführt worden.

"Wie doof kann man sein?"

NDR: Die Schredderaktion von Akten beim Bundesamt für Verfassungsschutz im Zusammenhang mit der "Operation Rennsteig": War das Dummheit, Zufall, Versehen oder Vorsatz?

Edathy: Meine Bewertung nach sehr umfangreicher Recherche ist die, dass man diese Frage nicht mit letzter Gewissheit beantworten kann. Es spricht etliches dafür, dass die Veranlassung der Aktenvernichtung im Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011 ausgesprochener Dummheit entsprungen ist. Gänzlich ausschließen, dass bewusst Unterlagen vernichtet werden sollten, kann man zwar nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings höher, dass es sich um ein verantwortungsloses Bescheuertsein gehandelt hat. Was allerdings die Frage aufwirft, wie doof man sein kann, um dennoch im Bundesamt für Verfassungsschutz Referatsleiter werden zu können.

NDR: Es hat ja offensichtlich auf vielen Ebenen ein massives Versagen gegeben. Lässt sich dafür eine gemeinsame Ursache feststellen?

Edathy: Nein. Es ist so, dass an sehr vielen Stellen in unterschiedlichster Weise Fehler gemacht worden sind. Es gab eben nicht den einen entscheidenden Fehler. Die Tatsache, dass eine rechte Terrorgruppe unentdeckt über zehn Jahre lang mordend und raubend durch die Republik ziehen konnte, ist einer multiplen Fehlleistung geschuldet. Ich kann die Frage, wer konkret Schuld hat, sehr gut verstehen. Was mich umtreibt, ist die Antwort: Das System der Organisation Innerer Sicherheit hat sich als ungenügend erwiesen. Da hat nicht einer etwas falsch gemacht, sondern fast alle.

NDR: Was muss sich bei den Behörden in der Zusammenarbeit ändern?

Edathy: Wir brauchen einen verbindlicheren Austausch relevanter Informationen über die rechtsextremistische Szene. Wir brauchen qualifizierteres  und mehr Personal für die Analyse entsprechender Entwicklungen. Wir brauchen eine geschärfte Sensibilität für die Herausforderungen des Rechtstaates durch rechtsextremistische Zusammenschlüsse. Und wir brauchen eine stärkere interkulturelle Öffnung unserer Behörden. Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn es einen leitenden Kriminalbeamten mit türkischer Familiengeschichte  gegeben hätte, der mit den Ermittlungen im Zusammenhang mit der Mordserie befasst gewesen wäre, man nicht erst sechs Jahre nach dem ersten Mord auf die Idee gekommen wäre, dass es sich um ein rassistisches Tatmotiv handeln könnte. Aber es muss sich noch viel mehr ändern!

NDR: Die  Angehörigen der Opfer sind in doppelter Weise entsetzt: Über die Taten aber auch und über den Umgang der Behörden mit dem Thema. In damaligen Polizeiprotokollen heißt es zum Beispiel wörtlich, "solche brutale Vorgehensweise spreche deutlich für Täter aus einem 'südländischen Kulturkreis'".

Edathy: oder einem "osteuropäischen Kulturkreis"...

Gleich doppelt als Opfer gesehen

NDR: Welche Motivlage herrscht da vor? Ist das Ignoranz?

Edathy: Jeder Mensch in Deutschland muss sich darauf verlassen können, dass, wenn er Opfer einer Straftat wird, unvoreingenommen und professionell ermittelt wird. Und er muss davon ausgehen dürfen, dass die Ermittler nicht zuerst Scheuklappen aufsetzen, und sich dann an die Arbeit machen. Das Bitterste war - und diese Erfahrung habe ich gewonnen aus Gesprächen mit Angehörigen der Mordopfer - dass sich diese Menschen über Jahre hinweg gleich doppelt als Opfer gesehen haben: Zum einem auf Grund des Todes eines nahen Angehörigen und zum anderen auf Grund der Tatsache, dass sie jahrelang von der Polizei verdächtigt wurden, mehr über die Morde gewusst zu haben, als sie den Behörden mitzuteilen bereit waren. Das ist beschämend. Das darf sich nicht wiederholen. Und das wird sich nur dann nicht wiederholen können, wenn wir aus den Ereignissen um den NSU gerade auch die Schlussfolgerung ziehen, den Bereich der Aus- und Weiterbildung, was die Sicherheitsbehörden betrifft, stark zu verändern. Und auch bei der Personalauswahl müssen wir sorgfältiger werden.

NDR: Die Ermittlungsgruppen rund um die Morde an den NSU-Opfern hießen "Bosporus" oder "Halbmond". Ist das eine Form von Rassismus, die da zum Ausdruck kommt?

Edathy: Ich bin nicht der Auffassung, dass wir es mit einem institutionellen Rassismus zu tun haben. Aber wie in der gesamten Bevölkerung gibt es auch im Bereich der Sicherheitsbehörden zum Teil Leute, die bisweilen vorurteilsbehaftet sind - auch in verantwortlichen Positionen. Und das ist schlichtweg gerade dort nicht zu akzeptieren. Und deswegen halte ich es für eine sinnvolle Überlegung, künftig rechtlich vorzuschreiben, dass bei schweren Straftaten mit Opfern, die einer ethnischen oder religiösen Minderheit angehören, dokumentiert werden muss, dass man auch in die Möglichkeit eines politischen Tatmotivs ermittelt hat. Der entscheidende Punkt ist aber: Wenn die Uhranzeige nicht funktioniert, hilft es nicht, mit der Hand die Zeiger nachzustellen. Man muss ans Uhrwerk ran.

Das Interview führten Angelika Henkel und Stefan Schölermann, NDR