Interview

Statistik-Professor kritisiert Demografie-Prognosen "Da wird massiv Angst geschürt"

Stand: 14.05.2013 08:54 Uhr

Beim heutigen Demografie-Gipfel ist die "Überalterung" ein Thema. Aber ist sie wirklich ein Problem? Nein, sagt Statistiker Bosbach im tagesschau.de-Interview. Viele Gruppen hätten Interesse, hier gezielt Angst zu schüren - und Langfrist-Prognosen seien ohnehin abstrus.

tagesschau.de: Die Deutschen sterben aus, es fehlt an Fachkräften und die Renten werden unbezahlbar - das scheinen die wesentlichen Folgen des demografischen Wandels zu sein. Was setzen Sie diesen düsteren Prognosen entgegen?

Gerd Bosbach: Ich schaue in die Vergangenheit, ins letzte Jahrhundert. Schon damals sind wir älter geworden. Der Jugendanteil ist gesunken und der der Rentner hat sich mehr als verdreifacht. Trotzdem sind wir nicht ausgestorben und der Sozialstaat wurde auch nicht abgebaut. Im Gegenteil: Der Sozialstaat wurde massiv ausgebaut, die Arbeitszeit verkürzt und der Wohlstand für alle erhöht. Aber auch im vergangenen Jahrhundert hat man versucht, Panik zu schüren. In der Weimarer Republik sprach und schrieb man vom "aussterbenden deutschen Volkskörper".

1953 befürchtete Konrad Adenauer gar das Aussterben. Ebenso war schon in den 1950er-Jahren die Annahme weit verbreitet, dass niemand mehr die Renten von heute würde zahlen können. Die Alterung jagt Angst ein. Dabei ist die Bevölkerung mehr als eine Anzahl von Menschen. Diese Menschen leisten auch etwas. Und wenn es nur auf den Anteil der Jugend ankäme, dann müsste es vielen afrikanischen Ländern sehr gut gehen. Tut es aber nicht.

Zur Person

Prof. Dr. Gerd Bosbach lehrt Statistik, Mathematik und Empirik am Standort Remagen der Fachhochschule Koblenz. Vor seiner wissenschaftlichen Karriere war er beim Statistischen Bundesamt und für die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung tätig. Zusammen mit Jens Jürgen Kroff schrieb Bosbach das Buch "Lügen mit Zahlen".

Der demografische Wandel als universelle Entschuldigung

tagesschau.de: Wer hat Interesse daran, dass wir vor dem demografischen Wandel vor allem Angst haben?

Bosbach: Da gibt es diverse Gruppen, und das macht die Sache auch so gefährlich. Die Arbeitgeber haben zum Beispiel ein großes Interesse daran, die Lohnnebenkosten zu senken. Die Beiträge für die Rente sind der größte Posten der Lohnnebenkosten. Ohne die Angst vor dem demografischen Wandel wären die Arbeitgeber nie aus der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung herausgekommen. Deswegen ist diese Angst schon bereits Ende der 1990er-Jahre massiv geschürt worden. Die arbeitgebernahe "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" gehörte zu den ersten treibenden Kräften, die die Demografie hof- und panikfähig gemacht haben.

Das Versicherungsgewerbe profitiert natürlich auch. Die gesetzliche Rentenversicherung mit ihren Staatszuschüssen macht ein Geschäft von über 250 Milliarden Euro aus, das lange am privaten Versicherungsmarkt vorbei lief. Seit 1999 wurde also massiv Einfluss genommen: auf den Finanzminister, den Wirtschaftsminister und die Bundestagsausschüsse. Nachdem die Riester-Rente beschlossene Sache war, gingen die Parteispenden der Versicherungen wieder zurück.  Und für die Politiker ist der demografische Wandel die willkommene Universalentschuldigung für alles, was schief läuft.

"Argumentation ist offensichtlich bescheuert"

tagesschau.de: Aber der Fachkräftemangel ist doch keine politische Erfindung …

Bosbach: Man kann darüber streiten, ob es ihn gibt. Aber wenn es ihn gibt, dann ist er hausgemacht und nicht der demografischen Entwicklung geschuldet. Wir haben es zwischen 1990 und 2005 massiv versäumt, Jugendliche auszubilden. Das wurde auf Arbeitgeberseite sogar so formuliert: Es gibt zu viele Jugendliche, und für 700.000 Jugendliche haben wir keine Ausbildungsstellen. Das können Sie in den Zeitungen von damals nachlesen.

Und jetzt ist auf einmal der demografische Wandel schuld, wie auch am Ärztemangel. Diese Argumentation ist offensichtlich bescheuert. Der Numerus Clausus für ein Medizinstudium liegt zwischen 1,0 und 1,4. Das heißt: Viele Menschen, die Arzt werden wollen, haben gar keine Chance, sich ausbilden zu lassen. Das ist ein schlechter Witz, über den aber mittlerweile niemand mehr lacht.

tagesschau.de: Warum wird die Argumentation "demografischer Wandel" so anstandslos übernommen?

Bosbach: Die schon erwähnten Interessensgruppen beeinflussen über Dutzende von Forschungseinrichtungen, die öffentlichkeitswirksame Studien veröffentlichen, die in ihrem Sinne argumentieren. Und die werden zum Teil ungeprüft übernommen. Zum Beispiel wird gern der Altenquotient  mit dem prozentualen Anteil der Alten  verwechselt oder gleich gesetzt. Wenn 60 Rentner 100 Erwerbsfähigen gegenüber stehen, ist das etwas anderes, als wenn es 60 Prozent Rentner gibt. Dann stehen nämlich 60 Rentner weniger als 40 Erwerbsfähigen gegenüber.

Es gilt also nach wie vor der Satz von Voltaire, dass man einer hundert Mal gehörten Lüge mehr glaubt als einer einmal gehörten Wahrheit. Neben den falschen Fakten spielt das Gefühl eine große Rolle: Wenn der Mensch geht, kommt der Wolf… Da wird mit einer Urangst gespielt.

Gefragt: kurzfristige und flexible Prognosen

tagesschau.de: Wie zuverlässig sind Aussagen über die Bevölkerungsentwicklung?

Bosbach: Prognosen über lange Zeiträume hinweg können nicht zuverlässig sein. Blicken wir mal zurück: Adenauer wusste 1960 nichts über das Leben von heute, außer der Jahreszahl. Der erste IBM-Computer ließ auch nicht vermuten, dass wir heute mit Internet, Bankautomaten und Datenaustausch per USB leben. Wer also behauptet, über 50 Jahre in die Zukunft blicken zu können, ist ein Traumtänzer.

Wir brauchen kurzfristigere und flexible Prognosen, um planen zu können. Selbst Energiekonzerne planen nicht über 20 Jahre hinaus. Wirtschaftsinstitute liegen in ihren Prognosen nur dann richtig, wenn sich nichts ändert. Kein großer Aufschwung, keine Krise ist jemals richtig vorhergesagt worden. Das Statistische Bundesamt weiß auch von dieser Ungenauigkeit von Prognosen und rechnet mit zwölf Varianten. Für die Bevölkerungszahl von 2060 bedeutet das einen Unterschied von 15,1 Millionen Menschen.

tagesschau.de: Was alles wurde in der Vergangenheit nicht bedacht oder falsch prognostiziert?

Bosbach: 1960 hat man sich Deutschland noch ohne den Zuzug von Ausländern vorgestellt. Die Antibabypille war zwar schon entwickelt, aber noch nicht in Gebrauch. Auch deren Folgen hat man nicht bedacht. Der Trend zur Kleinfamilie, zum Single-Dasein ist frühestens mit der 68er-Bewegung entstanden. Der Jugoslawien-Krieg, die Auflösung des Ostblocks mit mehr als drei Millionen Aussiedlern - all das konnte man 1960 nicht sehen, obwohl die Zeit damals viel langsamer war als heute. Von daher ist eine Prognose über 50 Jahre von heute an besonders abstrus.

tagesschau.de: Wagen Sie eine eigene Prognose?

Bosbach: Ja. Ich wage die Prognose, dass bald Weihnachten ist, wenn ich ein Weihnachtsgeschenk für meine Frau kaufe.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de