Ein Mann in einer Menschenmenge trägt eine Kippa.
Kontext

Wachsender Antisemitismus "Ein sehr beunruhigender Trend"

Stand: 03.11.2023 15:27 Uhr

Seit dem Angriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel ist die Anzahl antisemitischer Kommentare in den Sozialen Netzwerken stark angestiegen. Das führt laut Experten auch zu vermehrten Angriffen in der realen Welt.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

In den Sozialen Netzwerken hat es in den vergangenen Wochen deutlich mehr antisemitische Kommentare gegeben. Das ist das Ergebnis einer Analyse des Institute for Strategic Dialogue (ISD). Demnach sei allein bei YouTube in den ersten drei Tagen nach dem Angriff der militant-islamistischen Hamas die absolute Zahl der antisemitischen Kommentare zu konfliktbezogenen Videos um 4.963 Prozent im Vergleich zu den drei Tagen davor angestiegen. In den Tagen darauf gab es einen weiteren Anstieg, wenn auch deutlich geringer.

Auch unter der Berücksichtigung, dass seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober viel mehr Videos mit Bezug auf Israel und Gaza hochgeladen wurde, bleibt der Anstieg antisemitischer Kommentare sehr hoch. So stieg der Anteil antisemitischer Kommentare pro Video um 242 Prozent. Ausgewertet wurden dabei englischsprachige Kommentare.

Zu den antisemitischen Kommentaren gehörten der Untersuchung zufolge unter anderem entmenschlichende Sprache in Bezug auf jüdische Menschen sowie Vergleiche von Israel und dem Nationalsozialismus. Auch verbreitete Verschwörungserzählungen einer vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung wurden auf den aktuellen Krieg angewandt.

Anstieg auch auf "Alt-Tech-Plattformen"

Auch weitere Plattformen haben sich die Autoren der Untersuchung angeschaut, darunter sogenannte Alt-Tech-Plattformen wie "4chan" und Telegram. Alt-Tech-Plattformen sind oft weniger streng moderiert und daher auch bei Extremisten populär. Auch hier gab es einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Beiträge, vor allem auf der Plattform "4chan".

Bei den anderen Plattformen ist der Zuwachs jedoch deutlich geringer, was laut Hannah Rose, die an der Untersuchung mitgearbeitet hat, auch an der Datenerhebung liegen kann. "Bei Telegram sind viele der Chats geschlossen, so dass nur die Chats erfasst werden können, die offen zugänglich sind", sagt Rose. "Aus diesem Grund sind die Daten für Telegram recht gering."

"Antisemitismus kommt im Mainstream vor"

Der Krieg zwischen Israel und Gaza habe die Bedrohungslage für jüdische Menschen verschärft, sagt Rose. In vielen Plattformen sei es zu Drohungen gegen jüdische Gemeinden gekommen. "Es gab direkte Gewaltaufrufe, sowohl in westlichen Ländern als auch in Israel." Auf Telegram seien beispielsweise Bilder von getöteten Israelis verwendet worden, um zu Gewalt gegen jüdische Menschen aufzurufen.

Vor allem bei den YouTube-Kommentaren zeige sich, dass Antisemitismus nicht nur ein Problem am Rande der Gesellschaft sei. "Antisemitismus kann viele verschiedene Ausprägungen haben, von ganz rechts bis ganz links", sagt Rose. "Und es ist wirklich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, alle Formen von Antisemitismus zu bekämpfen, wo auch immer er auftritt."

Aufrufe zu Anschlägen

In extremistischen Gruppen gab es der Untersuchung zufolge Aufrufe zu Angriffen auf jüdische Gemeinden, beispielsweise von islamistischen Kreisen. Gruppen von Terrororganisationen wie Al Kaida oder die Terrormiliz "Islamischer Staat" veröffentlichten Inhalte, die zu Terroranschlägen gegen jüdische Ziele in Israel und israelische Botschaften im Ausland aufriefen.

"In großen rechtsextremen Telegram-Chats wurde wiederum dazu aufgerufen, die von der Hamas verwendeten Taktiken zu kopieren", sagt Rose. Es sei der Analyse zufolge nicht ungewöhnlich, dass sogar ideologisches Material zwischen islamistischen und rechtsextremen Online-Ökosystemen gepostet wird. Beispielsweise hätten sich rechtsextreme Netzwerke in der Vergangenheit mit militanten Palästinensern gegen den vermeintlich gemeinsamen "Kampf" gegen das jüdische Volk solidarisiert.

Nicht alle Kommentare strafrechtlich relevant

Rose sieht die Plattformen in der Verantwortung, die Verbreitung antisemitischer Inhalte zu unterbinden. Denn nicht alle Kommentare seien immer auch strafrechtlich relevant, so dass die Staaten oft machtlos seien. "Die Unternehmen haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass auf ihren Plattformen kein Hass verbreitet wird, auch wenn sie nicht ausdrücklich dazu verpflichtet sind."

Denn Hass im Netz sorge auch dafür, dass es im realen Leben zu Übergriffen komme, sagt Rose. "Wir haben bereits Angriffe auf Synagogen, Angriffe auf jüdische Gemeinden und Vandalismus an jüdischen Stätten weltweit erlebt. Es handelt sich um einen sehr beunruhigenden Trend."

Mehr antisemitische Angriffe in Deutschland

Viele Länder verzeichnen seit dem Angriff der Hamas einen Anstieg antisemitischer Angriffe. In Deutschland verzeichnete die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) vom 7. bis zum 15. Oktober 202 verifizierte antisemitische Vorfälle - ein Anstieg um mindestens 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, bezeichnete den massiven Anstieg des Antisemitismus als "Zäsur". Der Judenhass auf deutschen Straßen erinnere "an die schlimmsten Zeiten der deutschen Geschichte", sagte Haldenwang dem "Spiegel". Seit dem Überfall der Hamas auf Israel habe es in Deutschland bereits rund 1.800 Straftaten in diesem Zusammenhang gegeben. 

Auch weitere Länder verzeichnen Anstieg

Auch in Österreich registrierte die Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) eine deutliche Zunahme antisemitischer Vorfälle. Seit dem 7. Oktober seien 76 neue Fälle gemeldet worden. Das entspreche einer Steigerung um 300 Prozent im Vergleich zu den im gesamten Jahr 2022 gemeldeten Vorfällen.

In den USA meldete die Anti-Defamation League (ADL) mindestens 312 Meldungen über antisemitische Vorfälle zwischen dem 7. und 23. Oktober - im Vorjahreszeitraum waren es 64. Das entspricht einem Anstieg von mehr als 380 Prozent.

In Großbritannien wurden im selben Zeitraum nach Angaben des Community Security Trust (CST) mindestens 600 antisemitische Vorfälle registriert. Das ist die höchste Zahl, die der CST jemals in einem Zeitraum von 17 Tagen gemeldet wurde.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 02. November 2023 um 22:15 Uhr.