Ein Angehöriger trauert um einen getöteten Verwandten vor dem Al-Shifa Krankenhaus in Gaza-Stadt.
faktenfinder

Krieg im Nahen Osten Wie verlässlich sind die Todeszahlen aus Gaza?

Stand: 02.11.2023 16:05 Uhr

Die Hamas meldet Tausende Tote durch die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen. Israel bezweifelt die Darstellung der Terrormiliz. Wer ermittelt die Zahlen - und was sagen internationale Organisationen zu den Angaben?

Wer erstellt die Statistiken zu den Todeszahlen im Gazastreifen?

Das von der militant-islamistischen Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium im Gazastreifen zählt die Opfer. Das Ministerium ist die einzige offizielle Quelle.

Das Ministerium unterscheidet nicht zwischen Zivilisten und Mitgliedern der Hamas oder der Terrororganisation "Islamischer Dschihad". Zudem werden keine Todesursachen angegeben: Alle Toten seien "Opfer israelischer Gewalt".

Wie werden die Zahlen ermittelt?

Im Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt werden die Daten aller Opfer in einem Computersystem gesammelt. Krankenhausverwalter sagen, dass sie Aufzeichnungen über jeden Verwundeten führen, der ein Bett belegt, und über jede Leiche, die angeliefert wird. Die Daten werden mit anderen Einrichtungen und dem Gesundheitsministerium geteilt.

Die Namen der Opfer seien nicht immer bekannt, sagte Ministeriumssprecher Ashraf Al-Qidra der Nachrichtenagentur AP. Zudem gebe es immer wieder Störungen des Systems, sodass die Daten teilweise telefonisch überprüft werden müssten.

Das Ministerium sammelt auch Daten aus anderen Quellen, darunter dem Palästinensischen Roten Halbmond. "Jede Person, die unser Krankenhaus betritt, wird erfasst", sagte Atef Alkahlout, Direktor des indonesischen Krankenhauses in Gaza.

Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF veröffentlicht eigene Statistiken zu den Zahlen der getöteten Kinder. Auf die Anfrage des ARD-faktenfinders nach der Quelle der Zahlen gab es keine konkrete Antwort.

Ein Sprecher schrieb: "In anhaltenden Notsituationen und Konflikten verfolgen die Vereinten Nationen alle relevanten und verfügbaren Berichte und nutzen Daten aus verschiedenen Quellen. Dazu gehören UN-Personal und andere Quellen vor Ort, Menschenrechtsorganisationen, Nichtregierungsorganisationen, Behörden und Medien."

Wie werden die Zahlen überprüft?

Eine unabhängige Überprüfung findet nicht statt. Israel hat die Grenzen des Gazastreifens abgeriegelt, sodass ausländische Journalisten und humanitäre Helfer nicht in die Region gelangen können. Pressevertreter, die sich bereits im Gazastreifen befinden, sind dazu aufgrund der Gefahren und chaotischen Verhältnisse nicht in der Lage.

Zudem waren Journalisten im Gazastreifen schon vor dem Beginn des jüngsten Krieges einem massiven Druck durch die Hamas ausgesetzt. Die Organisation Reporter ohne Grenzen spricht von einer schweren Einschränkung der Berichterstattung, von Verhaftungen und Verhören. Die Organisation führt die palästinensischen Gebiete auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 156 von 180.

Wer vertraut den Zahlen?

Die Vereinten Nationen und andere internationale Institutionen und Experten halten die vom Gesundheitsministerium übermittelten Daten grundsätzlich für weitgehend korrekt. "Die Zahlen sind von Minute zu Minute möglicherweise nicht ganz genau", sagte Michael Ryan vom Programm für gesundheitliche Notfälle der Weltgesundheitsorganisation der Agentur AP. "Aber sie spiegeln weitgehend das Ausmaß an Todesfällen und Verletzungen wider." In früheren Kriegen oder Waffengängen wurden die Zählungen des Ministeriums durch die UN, unabhängige Untersuchungen und sogar israelischen Behörden bestätigt. In diesem Krieg werden die Zahlen jedoch durch Israel massiv angezweifelt.

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland, die von der mit der Hamas rivalisierenden Fatah kontrolliert wird, hält die Daten für valide. Die PA zahlt die Gehälter der Beamten, die im Gazastreifen die Daten sammeln und besteht auf deren Aufsicht. Das örtliche Gesundheitsministerium beschäftigt sowohl Mitarbeiter, die seit der Machtübernahme der Hamas rekrutiert wurden, als auch ehemalige Beamte der Fatah.

Die Organisation Human Rights Watch erklärte, dass die Opferzahlen im Allgemeinen zuverlässig seien und dass sie bei der Überprüfung früherer Angriffe auf Gaza keine großen Diskrepanzen festgestellt habe.

"Es ist erwähnenswert, dass die Zahlen, die seit dem 7. Oktober veröffentlicht wurden, im Allgemeinen konsistent sind oder sich im Rahmen der Logik für das Ausmaß der Tötungen befinden, die man angesichts der Intensität der Bombardierung in einem so dicht besiedelten Gebiet erwarten würde", sagte Omar Shakir, Direktor für Israel und Palästina bei der Organisation. Sie stimmten mit dem überein, was durch Zeugenaussagen, Satellitenbilder und andere Methoden ermittelt werde.

Und wer misstraut ihnen?

Insbesondere nach dem Raketeneinschlag an einem Krankenhaus in Gaza kamen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der aus dem Gazastreifen gemeldeten Opferzahlen auf. Er habe kein Vertrauen in die Zahlen, die die Palästinenser nennen, sagte US-Präsident Joe Biden in einer Pressekonferenz nach dem Vorfall.

Innerhalb einer Stunde meldete das Gaza-Ministerium damals 500 getötete Palästinenser, senkte den Wert am nächsten Tag auf 471. Israel warf dem Ministerium vor, eine zu hohe Zahl von Toten verbreitet zu haben. US-amerikanische Geheimdienste schätzen die Zahl der getöteten Menschen auf 100 bis 300, gaben jedoch nicht an, wie die Zahl ermittelt wurde.

Die Zahlen der Hamas-Gesundheitsbehörde seien mit Vorsicht zu genießen, sagte Oberstleutnant Richard Hecht, Sprecher des israelischen Militärs. Er lehnte es jedoch wiederholt ab, alternative Daten zu den palästinensischen Opfern zu nennen.

Luke Baker, der ehemalige Bürochef der Nachrichtenagentur Reuters in der Region, warnt ebenfalls davor, die Angaben des Ministeriums unkritisch zu übernehmen: Die Hamas habe ein klares propagandistisches Interesse daran, die Zahl der zivilen Opfer so hoch wie möglich anzusetzen, schreibt er auf X.

Es habe eine Zeit gegeben, in der man sich auf die Zahlen des Ministeriums verlassen konnte, so Baker. "Die Ärzte und Administratoren wussten, was sie taten und waren dabei professionell." Die Hamas habe jedoch in den 16 Jahren, in der sie in Gaza an der Macht ist, jegliche Ehrlichkeit und Redlichkeit eliminiert. Jeder Gesundheitsbeamte, der nicht die von der Hamas verlangten Todeszahlen mitteile, riskiere schwerwiegende Folgen. "Daher ist zumindest ein gewisses Maß an Skepsis angesichts der schnell aktualisierten und häufig runden Zahlen der Todesopfer erforderlich", mahnt Baker.

Mit Informationen der Agenturen Reuters und AP.