Interview

Nach der Wahl Mohammed Mursis "Für Ägypten ist das ein Epochenwechsel"

Stand: 25.06.2012 18:07 Uhr

Ägypten hat seinen ersten wirklich frei gewählten Präsidenten. Doch ob und wie er das Land voranbringen kann, ist noch völlig unklar. "Jetzt wird es erstmal Machtkämpfe geben", sagt der Ägypten-Experte Florian Kohstall im Interview mit tagesschau.de. Die Chance auf ein liberaleres Ägypten sieht er dennoch.

tagesschau.de: Nach langem Zittern hat Ägypten einen neuen Präsidenten. Welche Bedeutung hat diese Wahl für das Land?

Florian Kohstall: Für Ägypten ist das ein Epochenwechsel. Das wichtigste ist, dass das Ergebnis der Wahl anerkannt wurde. Nachdem sich die Bekanntgabe der Wahlergebnisse verzögert hatte, waren doch noch zu Manipulationen befürchtet worden. Schließlich war der unterlegene Ahmed Schafik der Kandidat des alten Regimes. Aber die Wahlen verliefen insgesamt fair, soweit ich das beobachten konnte. Das ist ein Meilenstein für den Transformationsprozess in Ägypten.

Zur Person

Florian Kohstall ist Politikwissenschaftler und Leiter des Verbindungsbüros der FU Berlin in Kairo. Er promovierte über "Internationale Entwicklungskooperation und Hochschulreformen in Ägypten und Marokko". Seine Forschungsschwerpunkte sind Reformprozesse und Wahlen in Nahost und Nordafrika.

tagesschau.de: Wie geht es in Ägypten jetzt weiter?

Kohstall: Viele auf dem Tahrir-Platz haben sich über das Ergebnis gefreut. Es gibt aber auch Skeptiker. Was das Ergebnis für die Zukunft bedeutet, ist noch schwer zu sagen. Das Militär hat die Kompetenzen des Präsidenten stark eingeschränkt und das Parlament aufgelöst. Mursi hat momentan kaum Befugnisse. Es ist noch nicht klar, ob er zu einer Symbolfigur wird oder ähnliche Vollmachten haben wird wie Mubarak.

"Wir werden jetzt Machtkämpfe erleben"

Zunächst mal werden wir jetzt einen langen Verhandlungsprozess und Machtkampf zwischen den politischen Kräften erleben. Der wird auch mit rechtlichen Mitteln geführt. Beispielsweise läuft derzeit ein Verfahren, die Muslimbruderschaft zu verbieten. Mursi hat nur eine Chance, wenn er sich mit den liberalen Kräften einigt und einen echten Politikwechsel einschlägt. Dann kann es zu einer zivileren Form der Regierung kommen.

tagesschau.de: Mit dem 61-jährigen Ingenieur Mursi rückt zum ersten Mal in der Geschichte Ägyptens ein Mann an die Spitze, der der Muslimbruderschaft angehört hat. Droht jetzt eine Islamisierung des Landes?

Kohstall: In den vergangenen Jahren hat sich die Muslimbruderschaft als moderate Oppositionspartei gegeben. Wie sie sich jetzt entwickeln wird, ist offen. Klar ist, dass Mursi ohne den Militärrat wenig machen kann. Insofern halte ich eine starke Islamisierung für unwahrscheinlich. Mursi hat ja schon angekündigt, dass er an den Kleidervorschriften in Ägypten nichts ändern wird. Andererseits hat er gegenüber seiner Wählerschaft auch eine Bringschuld. Ich könnte mir vorstellen, dass es zu symbolischen Maßnahmen kommen könnte, beispielsweise das Verbot von Alkohol in der Öffentlichkeit.

"Die Muslimbruderschaft hat an Zustimmung verloren"

tagesschau.de: Mursi hat kurz nach seiner Wahl verbreitet, dass er aus der Muslimbruderschaft ausgetreten sei und Präsident aller Ägypter sein möchte. Wie glaubwürdig ist das?

Kohstall: Ich halte das für ein gutes Zeichen. Es ist nicht so leicht, aus der Muslimbruderschaft auszutreten. Das ist ja keine Partei, sondern eine soziale und religiös orientierte Bewegung. Mursi hat den Parteivorsitz der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, hinter der die Muslimbruderschaft steht, niedergelegt und sich verbal distanziert. Ein konsequenter Schritt hin zu einem Präsidenten aller Ägypter.

tagesschau.de: Bei den Parlamentswahlen im vergangenen November konnte die Partei der Muslimbrüder noch  über 70 Prozent der Mandate gewinnen, jetzt wurde Mursi nur mit knapper Mehrheit gewählt. Wie stark ist sein Rückhalt in der Bevölkerung?

Kohstall: Die Wahl zwischen Mursi und Schafik war ja für viele Ägypter eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Deshalb hat er auch nicht die uneingeschränkte Unterstützung von allen, die ihn in der Stichwahl gewählt haben. Die reale Zustimmung zu Mursi und der Muslimbruderschaft liegt wohl eher bei 25 bis 30 Prozent. So sah ja auch das Ergebnis des ersten Wahlgangs aus, wo es noch andere Kandidaten und somit reale Wahlmöglichkeiten gab. Die Muslimbruderschaft hat an Zustimmung verloren, weil sie im Parlament wenig zustande gebracht hat. Andererseits hatte das Parlament im Grunde ja ohnehin keine Befugnisse.

"Die liberalen Kräfte sind gesellschaftlich eine wichtige Größe"

tagesschau.de: Mursi war sicher nicht der Wunschkandidat der Gruppe, die die sogenannte Facebook-Revolution vorangetrieben hat? Wo bleibt die jetzt?

Kohstall: Mursi hat ja bereits angekündigt, sie einzubinden und auf lokaler Ebene hat es schon einen Tag nach der Wahl Verhandlungen zwischen Liberalen und Mursi gegeben. Gesellschaftlich sind diese liberalen Kräfte eine wichtige Größe, das sieht man an der Unterstützung liberaler Kandidaten wie Hamdin Sabahi oder Abul Futuh im ersten Wahlgang. Da ist viel Potenzial, noch hapert es an der Organisation. Die Gruppen des alten Regimes und der Muslimbruderschaft sind nun mal nach wie vor am besten organisiert und haben deshalb die Wahlen dominiert. Das sieht man gerade auf dem Land. Dort ist die Revolution bisher nur als Wort angekommen, nicht als Tatsache. Die alten Netzwerke sind dort nach wie vor vorhanden.

tagesschau.de: Wie wird sich die Wahl Mursis auf Ägyptens Verhältnis zu Israel auswirken?

Kohstall: Ich denke, man kann Mursi beim Wort nehmen, dass die internationalen Verträge eingehalten werden. Auch das Militär wird mit seiner starken Rolle dafür sorgen. Die Beziehung zu den USA soll so bleiben wie sie ist. Mursi selbst hat in den USA studiert und promoviert. Der Friedensvertrag mit Israel wird sicher eingehalten. Eventuell könnte es zu neuen Initiativen im Verhältnis zu Israel kommen. Wenn, dann aber nur auf dem Verhandlungstisch.

tagesschau.de: Drohen jetzt neue Unruhen durch die Anhänger des unterlegenen Kandidaten Schafik?

Kohstall: Das glaube ich nicht. Auf dem Land kommt es zwar ab und zu mal zu Auseinandersetzungen. Für Kairo kann ich mir aber nicht vorstellen, dass die Schafik-Wähler sich so mobilisieren. Der harte Kern seiner Anhänger war relativ klein. Vielmehr ist es ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Demokratie, dass Schafik den Wahlsieg von Mursi anerkannt hat.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de