Bericht zum MH17-Abschuss Keine Schuldigen, aber viele Rückschlüsse

Stand: 13.10.2015 17:52 Uhr

Der niederländische Abschlussbericht zum MH17-Abschuss nennt zwar keine Schuldigen. Dennoch erhöht er den Druck auf Russland, sagt ARD-Korrespondent von Osten im Interview mit tagesschau.de. Aber auch die ukrainische Regierung muss sich Vorwürfe gefallen lassen.

Von Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de

tagesschau.de: Ist jetzt zweifelsfrei sicher, dass MH17 von einer Buk-Rakete russischer Bauart abgeschossen wurde?

Demian von Osten: Ja, das ist das wesentliche Ergebnis dieser Untersuchungskommission. Spezialisten unter der Leitung der Niederlande haben über ein Jahr die Wrackteile untersucht und kommen in ihrem Bericht nun zu dem Ergebnis, dass Einschlaglöcher in der Flugzeughaut eindeutig auf eine Buk-Rakete hinweisen.

tagesschau.de: Nach dem Abschuss ließen die prorussischen Separatisten die internationalen Kontrolleure tagelang nicht zur Absturzstelle. Wie aussagekräftig sind die Ergebnisse überhaupt?

Von Osten: Kriminaltechnische Untersuchungen sind heutzutage sehr präzise und können auch aus wenigen Funden wichtige Rückschlüsse ziehen. Und der Rumpf zeigt ganz eindeutig Einschläge des Schrappnells, das nur zu dem Gefechtskopf einer Buk-Rakete passt. Die Experten haben sogar erklärt, sie hätten Überreste der Rakete gefunden, die von den Farbabschürfungen und der Verformung her zu den Einschlägen im Rumpf des Flugzeugs passen. Ich halte den Bericht deshalb, trotz des Chaos in den ersten Tagen nach dem Absturz, für die valideste Untersuchung, die bislang vorliegt.

Demian von Osten

WDR-Reporter Demian von Osten hat über den Abschuss von Flug MH17 schon seit dem ersten Tag berichtet. Er war zeitweise im ARD-Studio Moskau tätig und kennt die russische und die ukrainische Politik. Zudem war er Ko-Autor der ARD-Dokumentation "Todesflug MH17", die im April dieses Jahres im Ersten zu sehen war.

tagesschau.de: Die Spezialisten der niederländischen Flugsicherheitsbehörde haben für die Untersuchung die bestehenden Trümmerteile der Maschine zusammengesetzt und rekonstruiert. Hat diese Aktion weitere Erkenntnisse gebracht?

Von Osten: Die Rekonstruktion war wichtig, um zeigen zu können, an welchen Stellen, welche Schäden verursacht wurden. Es ist jetzt eindeutig, dass die Rakete auf der linken Seite, etwas oberhalb des Cockpits explodiert ist und dort ihre Schrappnelle freigesetzt hat. Denn eine Buk-Rakete trifft das Zielobjekt nicht direkt, sondern explodiert kurz vorher und feuert dort Hunderte kleine Geschosse ab. Die Rekonstruktion macht die Ergebnisse aber auch besser nachvollziehbar, weil jeder die Wrackteile mit eigenen Augen sehen konnte - das Gerippe war ja bei der Pressekonferenz im Hintergrund aufgebaut.

tagesschau.de: Russland hat schon vor der Veröffentlichung dem niederländischen Bericht widersprochen - MH17 sei nicht von einer Buk aus russischer Produktion getroffen worden, sondern von einem veralteten Modell. Der Beschuss sei von ukrainisch kontrolliertem Gebiet aus erfolgt. Wie glaubwürdig ist die russische Version?

Von Osten: Der russische Bericht kommt vom Hersteller des Buk-Systems. Das klingt natürlich erstmal seriös. Man muss aber bedenken, dass diese Firma sehr unter den Sanktionen gegen Russland leidet und von daher eigene wirtschaftliche Interessen verfolgt. Außerdem konnte sie das Wrack von MH17 gar nicht untersuchen. Sie hat stattdessen ein ausrangiertes anderes Flugzeug beschossen und daraus ihre Erkenntnisse abgeleitet. Da können sich natürlich leicht Fehlschlüsse einschleichen. Der niederländische Bericht ist dagegen viel präziser und deshalb in meinen Augen auch seriöser.

Dazu kommt, dass Russland sich mit dem jüngsten Bericht auch selbst widerspricht: Kurz nach dem Abschuss der Maschine im Juli 2014 hatte der russische Ingenieursverband offiziell erklärt, MH17 könnte ausschließlich von einer Luft-Luft-Rakete abgeschossen worden sein. Davon ist heute keine Rede mehr.

Das Flugabwehrraketensystem Buk

Das Flugabwehrsystem Buk ("Buche") wurde in der Sowjetunion 1979 eingeführt. In unterschiedlichen Varianten befindet es sich in den Nachfolgestaaten bis heute im Einsatz.
Die für den Abschuss der malaysischen Boeing MH17 infrage kommende Modifikation M1 zerstört Ziele in einer Höhe von bis zu 22 Kilometern. Die Raketen explodieren in mehreren Metern Entfernung vor dem anvisierten Ziel. Die dabei entstehenden Splitter durchlöchern die Außenhaut des Flugzeugs, was zum Absturz führt.
Die ukrainische Armee hatte dem Londoner Internationalen Institut für Strategische Studien zufolge 2014 mehr als 60 Systeme des Typs Buk-M1 im Bestand. Russland verfügt über etwa 350 Systeme unterschiedlicher Modifikationen. Auch die prorussischen Rebellen in der Ostukraine sollen Buk-Raketen besitzen oder besessen haben.

"Der Druck auf Russland nimmt zu"

tagesschau.de: Der niederländische Bericht präsentiert keinen Schuldigen. Lassen sich dennoch Rückschlüsse ziehen, wer dafür verantwortlich sein könnte?

Von Osten: Die Ermittler wollten es bewusst vermeiden, mit dem Finger auf einen Schuldigen zu zeigen. Dennoch nimmt durch den Bericht der Druck auf Moskau eindeutig zu. Es bleibt der Eindruck, Moskau könnte den falschen Leuten Waffensysteme zur Verfügung gestellt haben und verhindere eine wirkliche Aufklärung.

tagesschau.de: Aber welchen Grund könnte es geben, dass jemand eine zivile Passagiermaschine abschießt?

Von Osten: In der Tat profitiert niemand von einem solchen Vorfall. Es spricht deshalb alles für ein Versehen. Eine Theorie besagt, dass die prorussischen Separatisten nach und nach schwerere Waffensysteme eingesetzt haben: Einige Tage vor dem Unglück haben sie ukrainische Kampfflugzeuge kurz nach dem Start abgeschossen, etwas später dann bereits in sechs Kilometern Höhe. MH17 wurde in elf Kilometern getroffen. Es könnte also sein, dass die Separatisten irrtümlich dachten, es handele sich um eine ukrainische Militärmaschine. Quelle des Fehlers könnte eventuell ein Informant auf einem ukrainischen Flughafen sein, der einfach einen falschen Hinweis gab.

Für die These, dass die Separatisten verantwortlich sind, spricht im Übrigen ein ganz simples Argument: Sie haben mehrfach ukrainische Kampfjets mit Buk-Raketen abgeschossen. Sie selber verfügen aber über keine Kampfjets. Es würde also rein militärisch keinen Sinn machen für die ukrainische Armee, Flugzeugabwehrsysteme einzusetzen - obwohl sie natürlich über das System verfügen - denn sie hätten ja gar keine Ziele.

Ukraine hätte Luftraum sperren lassen müssen

tagesschau.de: Trägt die damalige ukrainische Regierung aber nicht auch eine Mitschuld? Immerhin wusste sie um die Gefahren, die im Juli 2014 von dem Krieg im Osten des Landes ausgingen; dennoch erteilte sie die Überfluggenehmigung.

Von Osten: Darauf haben die Ermittler in Den Haag heute besonders hingewiesen. Sie werfen der Ukraine eine klare Verletzung der internationalen Luftverkehrsregeln vor. Denn die Regierung in Kiew hat den Luftraum über dem umkämpften Gebiet nicht sperren lassen, obwohl klar war, dass dieser nicht sicher ist, dass dort Kampfflugzeuge bereits aus großer Höhe abgeschossen wurden.

Auch den Fluggesellschaften - nicht nur Malaysia Airlines, sondern auch beispielsweise der Lufthansa, die das gleiche Gebiet nur wenige Minuten zuvor überflogen hat - machen die Ermittler Vorwürfe. Sie hatten keine eigene Risikoanalyse durchgeführt, obwohl öffentlich bekannt war, dass der Luftraum nicht sicher war.

tagesschau.de: Was folgt nun aus dem Bericht? Könnte er die Grundlage für eine Anklage gegen die - noch zu ermittelnden - Schuldigen sein?

Von Osten: Prinzipiell schon, das Problem ist jedoch, dass eine juristische Aufarbeitung wahrscheinlich nie zustande kommen wird. Denn die entscheidende Partei in der ganzen Aufarbeitung - Russland - sperrt sich gegen eine Klärung der Schuldfrage. So hat der Kreml etwa ein UN-Tribunal mit seinem Veto im Sicherheitsrat verhindert.

Es gibt zwar eine strafrechtliche Untersuchung des sogenannten "Joint Investigation Teams" - das aus Ermittlern Australiens, Belgiens, Malaysias, der Ukraine und der Niederlande besteht -, das die Frage klären soll, wer die Verantwortung für den Abschuss trägt. Aber auch diese Untersuchung - die frühestens 2016 zum Abschluss kommt - wird Russland mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht anerkennen.