NHS-Krankenwagenpersonal vor dem Royal London Hospital.

Britisches Gesundheitssystem wird 75 Ein Erfolgsmodell mit Altersschwäche

Stand: 05.07.2023 06:51 Uhr

In der Bevölkerung gilt das britische Gesundheitssystem NHS eigentlich als beliebt. Nach 75 Jahren bekommen die Briten die Unterfinanzierung aber zu spüren. Der NHS ist oft unterbesetzt und überfordert.

1944, noch während des Zweiten Weltkriegs, kündigte der damalige Gesundheitsminister Henry Willink das neue Gesundheitssystem mit folgenden Worten an: "Unser Plan ist ein Gesundheitsdienst, der für jeden in diesem Land die beste medizinische Beratung und Behandlung anbietet." Das Versprechen damals: Egal, welches Einkommen man habe - wer diesen Dienst nutzen wolle, müsse für eine Behandlung nichts bezahlen.

Zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung

Ziel war es, die Gesundheit der Gesamtbevölkerung zu verbessern. Vor allem sollten die Angehörigen der Arbeiterklasse, die sich Medikamente und Arztbesuche bisher nicht hatten leisten können, Zugang zur medizinischen Versorgung erhalten.

Vier Jahre später, 1948, fiel dann der Startschuss für den National Health Service, NHS. In den Medien wurden die Briten damals dazu aufgerufen, ihren Teil zum Gelingen beizutragen: "Am 5. Juli startet der neue nationale Gesundheitsdienst. […] Haben Sie schon ihren Hausarzt bestimmt? Wenn ihr Arzt Sie nicht aufnehmen kann, fragen Sie auf dem Postamt nach der Adresse des Bezirksamts, wo man ihnen die Namen anderer Ärzte in ihrer Umgebung nennen kann, die am NHS teilnehmen. Vergessen Sie nicht, jetzt ihren Arzt zu wählen."

Größtenteils über Steuern finanziert

Der britische Gesundheitsdienst wird zum größten Teil über Steuern finanziert. Mit rund 1,6 Millionen Beschäftigen gilt der NHS heute als der größte Arbeitgeber Europas. Der NHS ist eine nationale Einheitsorganisation, die regional untergliedert ist.

Einen Wettbewerb, wie er in Deutschland zwischen den Krankenkassen besteht, gibt es im NHS nicht. Auch ansonsten finden sich Unterschiede: Will man als Patient zu einem Facharzt, muss man zunächst zum GP, zum Hausarzt, der einen gegebenenfalls überweist. Fachärzte haben keine eigenen Praxen, in die man gehen könnte, sondern arbeiten in Krankenhäusern - ein Umstand, mit dem der NHS durchaus einer Überversorgung entgegenwirkt.

Stärke des NHS wurde langsam zur Schwäche

Was einst als Stärke des NHS gedacht war - die nationale Einheitsorganisation und die Steuerfinanzierung - hat sich im Laufe der Zeit allerdings auch als offene Flanke erwiesen. Prof. Thomas Gerlinger von der Universität Bielefeld, der Gesundheitssysteme erforscht und vergleicht, formuliert es so: "In einem staatlichen Gesundheitssystem ist natürlich die Höhe der Finanzmittelzuweisung fürs Gesundheitssystem ganz stark an den Willen des Gesetzgebers gebunden, der Regierungsmehrheit im Parlament."

Die Regierung in Großbritannien haben seit 2010 die konservativen Tories gestellt, die vor allem unter Premier David Cameron eine rigide Sparpolitik verfolgt haben. Die Gesundheitsversorgung spiegelt das längst wider, der NHS ist unterbesetzt und häufig überfordert.

Fast 7,5 Millionen Menschen warten auf Behandlungen

Fast siebeneinhalb Millionen Menschen warten aktuell auf Behandlungen und OPs, die meisten von ihnen monatelang, Hunderttausende aber auch über ein Jahr. Mit Schmerzen müssen aber auch viele Briten leben, die überhaupt nur versuchen, einen Zahnarzttermin zu bekommen. Gerlinger hält das britische Gesundheitssystem im Kern zwar für gut, verweist aber auf die starke Unterfinanzierung des NHS:

Die Mittel sind zu knapp. In Großbritannien wird viel weniger pro Kopf ausgegeben als in Deutschland.

In Deutschland seien es ungefähr - umgerechnet in Kaufkraftparitäten - 7000 Dollar pro Jahr und Kopf, in Großbritannien ungefähr 5000. Und das sehe man dann an der Zahl der Betten: Die Bettendichte bezogen auf 1000 Einwohner ist laut Gerlinger in Deutschland bei 7,8, in Großbritannien bei 2,4.

Briten bekommen Unterfinanzierung mehr zu spüren

In der Bevölkerung genießt der NHS eigentlich ein sehr hohes Ansehen. Inzwischen bekommen die Briten die Unterfinanzierung aber immer mehr zu spüren. In einer Umfrage hat zuletzt nur noch ein Drittel der Befragten die Leistung des Gesundheitssystems als gut bewertet.

Dass im NHS seit Monaten gestreikt wird, macht die Lage nicht besser. Erst waren die Krankenschwestern und Pfleger auf der Straße, jetzt streiken die Ärzte. Es sind die massivsten Streiks, die der NHS in seiner Geschichte je erlebt hat. Das medizinische Personal beklagt massive Reallohnverluste, weil die Gehaltssteigerungen seit Jahren hinter der Inflationsrate zurückbleiben.

Viele NHS-Mitarbeitende ausgebrannt

Zudem sind viele NHS-Mitarbeiter ausgebrannt, denn allein in England sind rund 130.000 Stellen im Gesundheitsdienst nicht besetzt. Diese streikende Assistenzärztin in Newcastle meint, ihr liege das Thema am Herzen, weil Mitarbeiter verloren gingen.

Wir können uns um Patienten nicht so kümmern, wie wir es wollen. Ich sehe so viele Patienten, die darauf warten behandelt zu werden. Aber es hat Grenzen, was wir tun können.

In einer Mitarbeiter-Befragung vom vergangenen Jahr sagten gut 32 Prozent, dass sie oft daran denken würden, den NHS zu verlassen. Gut 17 Prozent gaben an, zu gehen, sobald sie einen anderen Job gefunden haben.

Die Regierung hat in der vergangenen Woche einen Plan vorgelegt, wie die Situation verbessert werden soll. Das Echo darauf war eher verhalten.

Imke Köhler, ARD London, tagesschau, 05.07.2023 05:42 Uhr