Jahresrückblick

Jahresrückblick 2015 Ukraine - der vergessene Konflikt

Stand: 16.05.2017 14:56 Uhr

Ukraine - da war doch was? Der Konflikt zwischen Kiew und Moskau, die Kämpfe in der Ukraine, die gegenseitigen Sanktionen zwischen Russland und EU - all das scheint vergessen. Unsere Korrespondentin ist nach Donezk gereist und hat festgestellt, dass der Konflikt noch immer schwelt.

Von Golineh Atai, ARD-Studio Moskau

Als ich Mitte Oktober die von Separatisten kontrollierte Ostukraine besuche, auf dem Weg von Dnipropetrowsk nach Donezk, da fällt mir als erstes die befestigte Grenze auf. In wenigen Monaten nur ist aus einer Frontlinie zwischen der Ukraine und den "Volksrepubliken" der Separatisten eine ausgewachsene Grenze geworden, mit Mauern, Stacheldraht, Minen, strengen Kontrollen und langen Warteschlangen.

Wer aus der "Volksrepublik" hinausfahren möchte, der braucht eine schon Wochen vorher beantragte Genehmigung und wartet viele Stunden lang an einem von nur zwei Grenzübergängen. Eine Reise, die vor dem Krieg eine halbe Stunde dauerte, kann nun einen ganzen Tag in Anspruch nehmen.

Eine offene Wunde

Eine Grenze und kein Frieden: Tote und Verletzte entlang der Front, zwei hier, fünf dort - das hat die ukrainische Armee in den vergangenen Monaten immer wieder gemeldet. Fast anderthalb Jahre Krieg, der mehr als 8000 Menschen das Leben gekostet hat. Und der Friedensplan, der ihn beenden sollte, ist steckengeblieben. Beobachter sprechen von einem "eingefrorenen Konflikt", und der Donezker Blogger, den ich besuche, von einer "offenen Wunde", die Wladimir Putin unter allen Umständen so offen und entzündet halten wolle, um den politischen Handlungsspielraum der Ukraine einzuschränken.

Nach einigen Tagen in den abtrünnigen Gebieten bin ich mir sicher: Es wird keine Vereinigung mehr geben. Noch etwa zwei Millionen Einwohner leben in dieser Region, wird geschätzt. So desillusioniert viele vom "Russischen Frühling" sind, der im März 2014 über sie hereinbrach, so abgewandt sind die meisten von der Ukraine, deren Regierung sie monatelang bombardierte, "wie in einer Bestrafungsaktion".

Angst, abgeholt zu werden

Die teuren Preise, die Arbeitslosigkeit, das von Separatisten beschlagnahmte Eigentum, die sich - gelegentlich moralisch fragwürdig benehmenden - russischen Soldaten, schließlich das Unbehagen, in einem Nicht-Staat von teils kriminellen, planlosen Militärs regiert zu werden - all das teilen sie mir in schnellen Halbsätzen mit und mit sichtbarer Angst, abgeholt und verhaftet zu werden.

Eine Szene brennt sich ins Gedächtnis ein: Eine Rentnerin - eine ehemalige Englischlehrerin -, die auf einem Markt am Stadtrand von Donezk ihr Hab und Gut verkauft, Geschirr, Schuhe, ein paar Bücher. Sie sieht verlassen und ungepflegt aus. Viele ältere Menschen leben in ähnlichen Verhältnissen, höre ich. Umso weniger verstehe ich, warum die Separatisten UN-Mitarbeiter und fast alle internationalen Hilfsorganisationen ausgewiesen haben, sogar Ärzte ohne Grenzen - wenn doch die Versorgungslage in den Krankenhäusern der "Republiken" weiterhin mangelhaft ist. Internationale Mitarbeiter gelten als Spione, wird mir schließlich mitgeteilt.

Wahrscheinlich ist auch das der Grund, warum die meisten Journalisten - außer jene der russischen Staatsmedien - keine Akkreditierungen mehr in Donezk bekommen. Beobachter sind unerwünscht - das musste auch die OSZE, die die Sicherheitslage dokumentiert, einige Male erleben.

Friedensplan und Wirklichkeit

Die Bedingungen für eine "Reintegration" des Gebiets in die Ukraine, so wie es der Minsker Friedensplan vorsieht, sind für viele unerfüllbar: Eine Amnestie für die Kämpfer, die in den Augen vieler in Kiew als Kriegsverbrecher gelten, erscheint im Moment kaum durchsetzungsfähig. Andererseits wollen die Separatisten bei den im Februar geplanten Regionalwahlen keine ukrainischen Parteien auf ihrem Territorium zulassen.

Nur mit einer Semi-Autonomie der "Republiken" kann Kiew die Kontrolle über seine Grenze zu Russland zurückerlangen. Niemand glaubt daran, dass dieser Prozess bald zu einem Abschluss kommt.

Mit diesem Schwebezustand eines nahezu eingefrorenen Krieges und einer offenen Wunde scheinen die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Kiew, Moskau und im Westen irgendwie klarzukommen, zumindest im Moment. Die ukrainische Bevölkerung ist der Verlierer. Jene Mutter in Donezk, die Schmiergeld zahlen muss für eine Genehmigung, um zu ihrer Tochter nach Kiew zu fahren. Jener Vater, dessen Sohn auf dem Maidan demonstrierte und von Scharfschützen getötet wurde und dessen Mörder immer noch nicht gefunden und bestraft wurden. Jene Ukrainer, die mit ansehen, wie unverschämt die alten Eliten sich mit Wahlbetrug und Korruption an die Macht zurückbringen oder einfach dort halten.