Erntehelfer in Großbritannien
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Vereinigtes Königreich "Brexiteers wollen Arbeitskräftemangel"

Stand: 17.06.2023 17:12 Uhr

In Großbritannien fehlen rund 10.000 Erntehelfer. Doch die britische Regierung will den Landwirten nicht mit Visa für Arbeiter aus dem Ausland helfen. Das widerspräche ihren Brexit-Versprechungen.

Tim Chambers ist für die britische Regierung ein Ärgernis. Er ist Großfarmer im Süden Englands, leitet 20 Betriebe mit aktuell etwa 1700 Saisonarbeitern. Nahezu alle seiner Erntehelfer kommen aus dem Ausland: aus Bulgarien, Kasachstan, auch Indonesien.

Die britische Regierung, gespickt mit Brexit-Überzeugungstätern, will das nicht. Sie will keine billigen Arbeitsmigranten, höchstens ein Mindestmaß. Die Brexit-Befürworter hatten etwas anderes versprochen: Das seien Jobs, die britische Arbeiter machen sollten. Zu viel besseren Löhnen.

Das Ringen um Saisonarbeiter nach dem Brexit

Sven Lohmann, ARD London, 18.06.2023 12:45 Uhr

Zahl der Arbeitsvisa gedeckelt

Einheimische zu gewinnen, das habe er zehn Jahre lang versucht - doch es sei unmöglich, meint Chambers. Saisonarbeit wollten Engländer nicht. Und die Arbeit auf der Farm auch nicht. Chambers kümmert sich gerade um die Erdbeerernte.

Er prüft die Qualität seiner gepflückten Früchte, wenn er nicht gerade am Telefon hängt. Denn er braucht mehr Erntehelfer und versucht händeringend, weitere zu bekommen. Doch da macht die britische Regierung nicht mit, was für ihn ein großes Ärgernis ist.

45.000 Arbeitsvisa stellt das Innenministerium aus. Die Zahl ist gedeckelt. Die Dauer auch, maximal für sechs Monate. Die Branche braucht aber nach eigenen Angaben 55.000, es fehlen also 10.000.

Erntehelfer in Großbritannien

Insgesamt fehlen in Großbritannien etwa 10.000 Erntehelfer. Einheimische dafür zu gewinnen ist oftmals unmöglich.

Briten sollen selber ausbilden

"Das Innenministerium hat die Arbeitsvisa auch erst genehmigt, als die Saison eigentlich schon angefangen hatte. Viel zu spät", kritisiert Chambers. Sie hätten keine Planungssicherheit gehabt, weil auch lange Zeit unklar gewesen sei, in welchem Maße es überhaupt Visa für Erntehelfer geben würde.

Es klingt ein wenig nach Schikane, und das ist es auch. Innenministerin Suella Braverman sprach jüngst bei einem Treffen Ultrakonservativer aus ihrer Partei. Es gebe überhaupt keinen vernünftigen Grund, weshalb das Vereinigte Königreich nicht selbst Lkw-Fahrer, Metzger oder Erntehelfer ausbilden würde.

Es sind sämtlich Jobs, die bisher in großem Maße Arbeiter aus dem Ausland übernommen haben und deren Fehlen nun in den entsprechenden Branchen große Probleme verursacht. Der Brexit, so Braverman weiter, ermögliche den Briten nun eine Wirtschaft aufzubauen, in der überwiegend hohe Löhne bezahlt würden und die weniger auf ausländische Billigarbeitskräfte angewiesen sei. 

"Billiglohn-Sektor ausquetschen"

Das sei lachhaft, kommentiert Farmer Chambers die Aussagen. "Wenn mir die Supermärkte mehr Geld zahlen, stelle ich gerne auch Pflücker mit 100.000 Pfund Jahresgehalt ein." Davon sind Supermärkte jedoch weit weg. Das weiß eigentlich auch Innenministerin Braverman. Und doch hilft sie den Landwirten nicht bei der Beschaffung von Personal und mit zusätzlichen Visa. Fragt sich, warum?

Für Ökonomen, wie Jonathan Portes vom Londoner King´s College, ist die Frage leicht zu beantworten: Der Arbeitskräftemangel sei aus Perspektive der Brexiteers gar kein Problem. Den wollten sie sogar. "Ihre Politik ist, den auf Billiglöhner angewiesenen Sektor auszuquetschen. Damit dieser gezwungen wird, in Ausbildung zu investieren. Oder in Technologie", so Portes.

"Wirtschaft wie im Traumland"

Um zu verstehen, was die Brexit-getriebene Regierung vorhat, muss man sich ihre Vision der Wirtschaft vor Augen führen. Ihr ehemaliger Frontmann, Ex-Premier Boris Johnson, hat es wieder und wieder erwähnt.

Zum einen soll die Zahl der Migranten deutlich reduziert werden, vor allem die der billigen Arbeitskräfte. "Die drücken nur die Löhne runter", sagte Johnson beispielsweise in einem Interview im Januar 2020. Zum anderen wollen die Brexiteers eine neue Wirtschaft, wie in einem Traumland. "Unsere Vision ist eine Wirtschaft mit Topgehältern, geringen Steuern, hoch ausgebildeten Arbeitskräften. Mit hoher Produktivität und rasant steigenden Löhnen für die Geringverdiener", führte Johnson schon im Jahr 2019 aus.

Sein Nachfolger als Premierminister, Rishi Sunak, ein Brexiteer, der nicht mehr Johnsons Freund, aber immer noch Bruder im Geiste ist, bombardiert die Nation seit Wochen mit einem Slogan: "Hohe Löhne, Top-Fachkräfte-Wirtschaft." Großbritannien wolle Topleute ausbilden, die Klügsten ins Land holen. "Diese Migranten wollen wir", propagiert Sunak.

Roboter ersetzen vielerorts Erntehelfer.

Vielerorts werden Roboter als Erntehelfer eingesetzt. Die britische Regierung unterstützt diesen Trend.

Landwirte sollen in Technologie investieren

Was bedeutet das eigentlich für die Erdbeerernte? Entweder also, dass gut bezahlte Briten sie übernehmen - oder Roboter. Anders als bei der Erteilung von Arbeitsvisa für Billiglöhner wird die britische Regierung bei der Entwicklung von Technologien für die Landwirtschaft großzügig. Sie gibt umgerechnet 230 Millionen Euro, um Innovationen voranzubringen. Prototypen sind auch schon im Einsatz, aber noch nicht marktreif. Wenn die von gutbezahlten Ingenieuren gesteuert würden, wäre der Traum der Brexiteers auf dem Erdbeerfeld Realität.

Soweit ist es aber noch nicht. Und schon gar nicht in allen Bereichen, in denen billige Arbeitskräfte den Alltag bestimmen. Ökonomen sind nicht nur bei der Utopie einer Wirtschaft skeptisch, in der die Masse gut ausgebildet ist und gut verdient. Auch, ob sich Landwirte nötigen lassen, auf Helfer aus dem Ausland zu verzichten und in Roboter zu investieren. Jonathan Portes vom King's College bezweifelt beides.

Landwirt Chambers weist darauf hin, dass die Strategie der britischen Regierung Unsinn sei. Sie könne die Branche nicht ausquetschen und gleichzeitig verlangen, dass sie mehr Geld für höhere Löhne und Roboter ausgebe.

Der Mangel an Erntehelfern wird bleiben. Zuletzt hat die Regierung immer erst dann reagiert, wenn auch die Verbraucher betroffen waren und vor leeren Obst- und Gemüseregalen standen. Soweit ist es aber noch nicht.   

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete "Das Erste" im "Europamagazin" am 18. Juni 2023 um 12:45 Uhr.