Russland Ein Machtkampf, der Putin nützt?
Es ist ein für Russland ungewöhnlich offen ausgetragener Disput: Die Wagner-Truppe soll sich dem russischen Verteidigungsministerium unterstellen, lehnt das aber ab. Tobt hier ein Machtkampf - oder dient der Konflikt am Ende Putin?
Obszöne Flüche, wüste Verwünschungen - wieder und wieder attackiert der Gründer und Chef der Wagner-Truppe, Jewgenij Prigoschin, öffentlich den Verteidigungsminister und den Generalstabschef der russischen Streitkräfte. Er macht sie persönlich verantwortlich für das schleppende Vorankommen der sogenannten "militärischen Spezialoperation", die er schlicht Krieg nennt - entgegen der offiziellen Sprachregelung.
Prigoschin weist ihnen die Schuld zu für die Niederlagen, für die hohen Verluste: "Ihre Unfähigkeit kostet zehntausende russische Jungs das Leben. Das ist unverzeihlich", sagt er.
Prigoschin beschimpft Beamte als "parfümierte Sesselpupser" und warnt die Eliten vor der Rache des Volkes, das an der Front Opfer bringe, während sie Morchelsuppe schlürften. Er greift das System an. Und bleibt trotzdem unangetastet.
Es gibt kein Verfahren wegen der Gründung und Finanzierung einer privaten Armee, die in Russland verboten ist. Es gibt auch keinen Prozess wegen wiederholter Diskreditierung der Armee, der Beleidigung von Beamten oder Verstößen gegen Zensurgesetze.
Eine lange Bekanntschaft
Für Prigoschin gelten offensichtlich andere Regeln, wohl auch, weil er die Gunst des Präsidenten genießt. Wladimir Putin und er kennen sich lange - aus Petersburger Zeiten, als Prigoschin nach dem Absitzen einer Gefängnisstrafe seine Karriere als Geschäftsmann begann.
Er eröffnete Restaurants, wurde zum Caterer des Kreml und bekam den aus seiner Sicht verfehlten Spitznamen "Putins Koch" angehängt. Schließlich, so Prigoschin im Interview mit dem patriotisch gesinnten Journalisten und selbst ernannten politischen Berater Konstantin Dolgow, habe er nie gekocht und könne es auch nicht:
Sie hätten mir lieber gleich den Spitznamen 'Putins Schlachter' geben sollen. Das wäre besser gewesen.
Er sagt es ohne jede Ironie. Tatsächlich hat die von ihm gegründete Kampftruppe Wagner mehr als eine blutige Schlacht im Interesse des Kreml geschlagen: in Ländern, in denen es offiziell keine russischen Einsätze gab.
Eine Rolle, die er mittlerweile offen annimmt: Prigoschin als Anführer der Kämpfer seiner Wagner-Truppe.
Wissen, das schützen dürfte
Auch, wenn sich Prigoschin inzwischen offen zu einigen dieser über lange Jahre verheimlichten Einsätze bekennt: Er dürfte genügend Details kennen, die ihm einen gewissen Schutz von ganz oben garantieren.
Vieles sei persönlich geklärt worden, sagte der Investigativjournalist Ruslan Lewijew vom Conflict Intelligence Team bereits 2019: "Offenbar gibt es direkten Kontakt zwischen Putin und Prigoschin. Manchmal ohne jede Beteiligung von Schoigu. Schoigu und Prigoschin können nicht miteinander."
Eine ganze Reihe von Vorwürfen
Nicht erst seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine stehen Vorwürfe Prigoschins und ehemaliger Kämpfer im Raum, dass das Verteidigungsministerium sich mit Erfolgen schmücke, die die Wagner-Truppe blutig erkämpft habe. Dass man die Truppe, die im Ruf steht, gnadenlos und brutal vorzugehen, nicht mit ausreichend Munition und moderner Technik ausgestattet habe. Und dass bürokratische Fehlentscheidungen zu hohen Verlusten geführt hätten.
Vordergründig geht es um Anerkennung und Strategiefragen. Letztlich aber auch um Macht und Einfluss.
Unverzichtbare Kämpfer
Prigoschin hat in Russland eine militärische Parallelstruktur aufgebaut, und die regulären Streitkräfte können zurzeit kaum auf die Kämpfer der Wagner-Truppe verzichten, obwohl das Verteidigungsministerium auf sie keinen direkten Zugriff hat.
Das erklärt den etwas verzweifelt wirkenden Versuch, nun per Erlass eine vertragliche Unter- und Einordnung aller sogenannter Freiwilligenverbände bis zum 1. Juli durchzusetzen.
Sollte sich Prigoschin, wie angekündigt, weigern, zu unterschreiben, hätte dies gravierende Folgen für das Ministerium, meint der Politologe Michel Naki in seinem YouTube-Kanal. Dann würde für alle in Russland sichtbar, "dass das Verteidigungsministerium die Wagner-Gruppe nicht kontrolliert und nichts gegen sie tun kann".
Fragiles Gleichgewicht zwischen Sicherheitsapparaten
Es wäre eine Machtdemonstration Prigoschins, die das fragile Gleichgewicht zwischen den diversen Sicherheitsapparaten in Russland massiv ins Wanken bringen könnte.
Eine Situation, die für das Regime heikel zu sein scheint, die aber dennoch Putin in die Karten spielen könnte. Eine erfolgreiche Intervention würde, ein dreiviertel Jahr vor der Präsidentschaftswahl, noch einmal unterstreichen, dass er als Schlichter und Stabilitätsanker unverzichtbar ist.
Ist es also ein abgekartetes, etwas aus dem Ruder gelaufenes Spiel? Oder hat Prigoschin längst eine eigene Agenda?
Prigoschins politisches Credo
Ob er sich politisch in Stellung bringen will oder ob es ihm in erster Linie darum geht, seine Rolle im System so zu stärken, dass er, egal, was kommt, weiter ungestört seinen lukrativen Geschäften nachgehen kann, bleibt vorerst offen.
Sein politisches Credo bringt er im Interview mit dem Journalisten Dolgow so auf den Punkt:
Ich liebe meine Heimat. Ich gehorche Putin. Schoigu muss weg. Wir werden weiter kämpfen.
Kritische Äußerung zu Kriegszielen
Dabei sieht Prigoschin die von Putin ausgegebenen Kriegsziele überraschend kritisch. Statt einer Entmilitarisierung habe man in der Ukraine das Gegenteil erreicht.
Der Krieg habe aus der ukrainischen Armee eine der stärksten der Welt gemacht - mit einer Moral, sagt er anerkennend, die der sowjetischen im Zweiten Weltkrieg in nichts nachstehe.