Kaja Kallas
interview

Estlands Ministerpräsidentin Kallas "Russland spielt mit den Ängsten der Menschen"

Stand: 20.02.2024 21:41 Uhr

Sie steht auf der Fahndungsliste Russlands - Angst mache Kaja Kallas das aber nicht, sagt die estnische Regierungschefin in den tagesthemen. Sie ist sich sicher: Bündeln die Staaten ihre Kräfte, könne Putin sofort gestoppt werden.

tagesthemen: Wie gefährlich sind Putin und Russland nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Estland und Europa?

Kaja Kallas: Die Frage ist nicht, ob er gefährlich für Estland ist, sondern für die NATO, und das hängt davon ab, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht. Wenn wir nicht genug tun, um ihn dort zu stoppen, wird es weitergehen. Bei jedem weiteren Schritt wird er noch mutiger werden. Das dürfen wir nicht vergessen. In der NATO gibt es keine Länder erster oder zweiter Klasse, da sind wir alle gleich. Deshalb sollten wir alles tun, um ihn jetzt zu stoppen.

"Wir sollten alles tun, um Putin jetzt zu stoppen", Kaja Kallas, Ministerpräsidentin Estland, zum russischen Krieg gegen die Ukraine und den Folgen

tagesthemen, 20.02.2024 22:15 Uhr

tagesthemen: Der Konflikt betrifft die NATO, aber Sie sind auch persönlich betroffen: Putin hat Sie - als erste Regierungschefin - auf die russische Fahndungsliste gesetzt und einen Haftbefehl gegen Sie erlassen. Ist das für Sie eine Bürde oder eine Ehre?

Kallas: Das nutzt Putin eindeutig als Waffe, um Angst zu verbreiten und um zu zeigen, dass wir kein echtes Land sind. Er beschuldigt mich für Dinge, die eigentlich interne russische Angelegenheiten sind. Wir sind aber ein eigenständiges Land. Daran sieht man, dass er imperialistische Träume und Gedanken hat. Aber ja, als das bekannt wurde, sagten mir viele, dass das eine Ehrenmedaille sei. Ich muss wohl irgendwas richtig gemacht haben, wenn die Russen so sauer auf mich sind.

tagesthemen: Wie schaffen Sie es, keine Angst zu haben?

Kallas: Er will, dass wir Angst haben. Aber damit würden wir ihm geben, was er will. Deshalb sollten wir keine Angst haben. Das Einzige, was uns Angst machen sollte, ist die Angst selbst, wie es schon Roosevelt im zweiten Weltkrieg sagte.

Drei Lektionen aus den 1930er-Jahren

tagesthemen: Hat das auch damit zu tun, dass Sie ein Vorbild für das estnische Volk sein müssen?

Kallas: Wir müssen alle vorangehen und erklären, warum wir der Ukraine helfen müssen und was auf dem Spiel steht. Es fällt mir vielleicht leichter, das in meinem Land zu erklären als hier, denn Deutschland hat ja viel bessere Nachbarländer. Wir haben aus der Geschichte der 1930er-Jahre drei grundlegende Lektionen gelernt:

Die erste lautet: Wenn in Europa etwas passiert, verbreitet es sich sehr schnell im Rest Europas. Niemand ist sicher, wenn wir den Aggressor nicht stoppen.

Zweitens: Wenn Aggression sich irgendwo auszahlt, ist das eine Einladung, sie auch woanders anzuwenden. Wir werden dann auf der ganzen Welt immer mehr Kriege sehen, denn auf der ganzen Welt schauen potentielle Aggressoren gerade ganz genau zu. Im zweiten Weltkrieg war es nach Deutschland Japan, das in benachbarte Gebiete einmarschierte.

Die dritte Lektion ist die Isolationspolitik der USA, die sich raushalten wollten und sagten, es ginge sie nichts an. Dafür mussten sie am Ende einen hohen Preis zahlen. Was wir daraus lernen sollten, ist, dass wir den Aggressor so früh wie möglich aufhalten müssen.

"Unsere Steuerzahler sollten nicht dafür zahlen müssen"

tagesthemen: Sie sagen, wovor Russland wirklich Angst hat, ist, dass die EU die eingefrorenen Mittel - mehrere hundert Milliarden Dollar - der Ukraine geben könnte. Wäre das aber nicht der falsche Ansatz, weil es der EU schaden könnte?

Kallas: Nein. Das ist ein interessanter Punkt. Russland verursacht jeden Tag Kriegsschäden in der Ukraine. In Den Haag werden die Kosten dieser Schäden dokumentiert, so dass die Ukraine einen legitimen Anspruch auf diese Reparationszahlungen gegenüber Russland hat. Wir haben die eingefrorenen russischen Vermögen und kennen ihren Wert. Dadurch hat Russland uns gegenüber einen legitimen Anspruch. Wir können diese zwei Ansprüche miteinander verrechnen. Sollte nach den Reparationszahlungen noch etwas übrig sein, können wir das natürlich an Russland zurückgeben.

Das erste Argument dagegen wäre, dass das Eigentumsrecht verletzt würde. Das Eigentum kann aber gar nicht genutzt werden, weil es ja bereits eingefroren ist. Das zweite Argument dagegen wäre, dass es dem Euro schaden würde. Das wäre aber dann nicht der Fall, wenn Euro, Dollar und Pfund das gemeinsam täten. Laut Experten wäre der Schaden zudem bereits beim Einfrieren der Gelder entstanden. Drittens, in Bezug auf die Schulden: China und andere kaufen nach wie vor Euro-Anleihen, obwohl die Gelder eingefroren wurden. Der frühere Chef der Weltbank hat diese Argumente deutlich widerlegt.

Kaja Kallas, Ministerpräsidentin Estland, über den russischen Krieg gegen die Ukraine (englische Version)

tagesthemen, 20.02.2024 22:15 Uhr

tagesthemen: Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ist sich da nicht so sicher. Wie wollen Sie sie überzeugen? Mit den genannten Argumenten?

Kallas: Ja, genau, mit den Argumenten. Robert Zoellick war es, der all diese Argumente widerlegte. Es ist ganz klar: Wenn wir es alle gemeinsam tun, mit unseren starken Währungen, dem Dollar, Euro, Pfund, Yen, dann treten die negativen Effekte nicht ein. Und nebenbei: Wenn wir Angst davor haben, dass Russland unsere Vermögen einzieht, dann tun sie das doch schon längst, ohne dass wir etwas gemacht hätten. Für sie gelten nicht die gleichen Regeln wie für uns in der demokratischen Welt mit der Rechtsstaatlichkeit. Aber noch einmal: Das wäre im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit. Russland verursacht die Schäden in der Ukraine und unsere Steuerzahler sollten nicht dafür zahlen müssen.

"Unsere Einheit ist unsere Stärke"

tagesthemen: Deutschland tut viel, um die Ukraine zu unterstützen. Könnte Deutschland mehr tun, zum Beispiel "Taurus"-Marschflugkörper liefern?

Kallas: Deutschland tut viel, und wir müssen alle überlegen, was wir darüber hinaus noch tun können. Einerseits ist da die militärische Unterstützung, die wir der Ukraine geben und geben sollten. Wir geben alles, was wir nur können, und sicherlich tut Deutschland das auch. Wenn wir uns die Zahlen des Kiel Instituts ansehen, dann gibt es aber eindeutig Länder in Europa, die mehr tun könnten. Ich kenne natürlich deren Bestände nicht, aber sie könnten wahrscheinlich mehr beisteuern.

Nebenbei sollten wir aber auch über kreative Ansätze nachdenken, wie wir Druck auf Russland ausüben können, um den Krieg zu beenden. Die Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, sind wirtschaftliche Sanktionen und politischer Druck in verschiedenen Institutionen.

tagesthemen: Wenn Sie heute Abend Bundeskanzler Olaf Scholz treffen, was werden Sie ihm sagen? Schicken Sie "Taurus"-Marschflugkörper?

Kallas: Deutschland sollte selbst entscheiden, was es tun kann und was nicht. Deutschland hat bereits sehr viel getan. In absoluten Zahlen hat Deutschland unter den europäischen Ländern die Ukraine am meisten unterstützt. Im Vergleich zum Vorjahr hat es seine Unterstützung sogar verdoppelt. Wir werden ganz sicher darüber sprechen, was wir noch tun können und wie wir andere Länder überzeugen, auch mehr zu tun. Unsere Einheit ist unsere Stärke. Wir sollten einander nicht bekämpfen, sondern uns darauf konzentrieren herauszufinden, was wir tun können, um den Krieg zu beenden.

Die Russen Estlands

tagesthemen: Ein Viertel der estnischen Bevölkerung hat russische Wurzeln. Das möchte Putin sich zunutze machen. Die Befürchtung ist, dass er das als Grund für eine Invasion nutzen könnte. Wie wollen Sie das verhindern?

Kallas: Zunächst muss man wissen, dass die russische Minderheit in den 1920er-Jahren, als Estland unabhängig war, drei Prozent betrug. Als Russland Estland besetzte, deportierten sie Esten nach Sibirien und brachten Russen in das Land. Meine eigene Familie wurde auch nach Sibirien deportiert. Zum Ende der Besatzung belief sich die russische Minderheit auf 30 Prozent. Sie wurden nicht in Estland geboren. Aktuell sind es rund 20 Prozent. Sie wissen ganz genau, dass wenn die Russen kommen, um die "Russen" zu befreien, die woanders leben, dann verlieren sie ihr Zuhause und ihr Umfeld, denn das ist auch in den russischsprachigen Regionen Charkiw und Mariupol passiert.

Die Russen in Estland sind natürlich keine homogene Gruppe. Es gibt einen großen Unterschied zwischen alten und jungen Leuten. Die alten kamen ins Land, als die Esten deportiert wurden. Sie herrschten über das Land, und dieses Gefühl wollen sie zurück. Die jungen Leute aber sehen, dass Russland die Ukraine überfällt und dass das falsch ist und wir dagegen angehen müssen. Die meisten unserer russischsprachigen Menschen sagen, Estland ist unsere Heimat, wir fühlen uns als Esten. Ich glaube, dass die russischsprachigen Menschen hier die russische Propaganda viel eher glauben als in unserem Land, wo sie sehen, dass das Leben auf der anderen Seite der Grenze so viel schlechter ist als bei uns. Das wollen sie nicht.

tagesthemen: Gerade heute wurde bekannt, dass ihr Land erfolgreich einen Hybridangriff des russischen Geheimdienstes auf estnischem Gebiet abgewehrt hat. Können sie uns dazu mehr erzählen?

Kallas: Ja, diese Dinge passieren mitten in unseren Gesellschaften. Wir machen sie öffentlich, damit andere Länder diese Muster auch erkennen können. Russland ist sehr gut darin, Chaos und Gräben innerhalb unserer Gesellschaften zu schaffen. Sie säen Angst und spielen mit den Ängsten der Menschen. Sie haben vandaliert, um Angst in der Gesellschaft zu schüren. Wir machen das öffentlich, damit die Menschen verstehen, was dahintersteckt und auch, damit die Täter bestraft werden können, denn wir wissen, wer sie sind.

"Ein Schattenkrieg in unseren Gesellschaften"

tagesthemen: Was meinen Sie mit Vandalismus?

Kallas: Zum Beispiel an Denkmälern, die dem estnischen Volk wichtig sind. Es gab auch Vandalismus am Auto des Innenministers und des Chefredakteurs eines großen Medienunternehmens. Das sind solche hybriden Angriffe. Wir konzentrieren uns sehr auf den konventionellen Krieg in der Ukraine, aber es findet auch ein Schattenkrieg in unseren Gesellschaften statt, häufig im Kontext der sozialen Medien. Erst vor Kurzem geschah das in Deutschland, mit der Nachricht über die Bots auf X, die Posts in deutscher Sprache verfassten, die sich in der ganzen Gesellschaft verbreiteten. Wir müssen über diese Dinge Bescheid wissen und mit den Leuten, damit sie diese Muster wiedererkennen.

tagesthemen: Wir sprechen über Krieg. Wie sollte er enden? Das liegt natürlich an der Ukraine, aber was wäre Ihre politische Vision?

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte Präsident Selenskyj: Fragen Sie nicht die Ukraine, wann der Krieg endet. Fragen sie sich selbst, warum Putin immer noch in der Lage ist, den Krieg weiterzuführen. Darüber sollten wir alle nachdenken. Das estnische Verteidigungsministerium hat eine Strategie entwickelt: Wenn alle Länder, die die Ukraine militärisch unterstützen, mindestens 0,25 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts bereitstellen würden, um die Ukraine zu unterstützen, dann wäre das mehr als die Ressourcen Russlands. Das gesamte Verteidigungsbudget der Ramstein-Koalition ist 13 mal so groß wie das stark aufgeblähte Budget Russlands. Und wenn wir dann noch die Sanktionen dazu nehmen - der russischen Wirtschaft geht es nicht gut, auch wenn sie uns das Glauben machen wollen. Wenn wir unsere Kräfte bündeln, dann können wir Putin jetzt stoppen.

Und zu den Sanktionen: Wenn die Unternehmen in Europa immer noch denken, dass sie davon profitieren können und das keinen Einfluss hat, dann schauen sie nicht über den Tellerrand. Wenn der Krieg andauert, haben wir alle etwas zu verlieren. Deshalb sollten wir unsere Kräfte bündeln und so die Aggression stoppen.

Das Gespräch führte Jessy Wellmer für die tagesthemen, übersetzt wurde es aus dem Englischen von Julia Rönnau.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 20. Februar 2024 um 22:15 Uhr.