Flüchtlinge zwischen Italien und Frankreich Verloren in Ventimiglia
Ventimiglia in Italien ist Durchgangsort für Flüchtlinge, die es nach Frankreich zieht. Die Stadt will sie loswerden - nicht nur deshalb versuchen viele Migranten unermüdlich, die Grenze zu überqueren.
Es ist das Ende von Saras erstem Versuch. Um 7:30 Uhr morgens verlässt eine Gruppe von etwa 20 jungen Männern und Frauen die französische Grenzstation Menton an der ligurischen Küste und kommt zurück auf die italienische Seite. Sara ist eine von ihnen. Sie und ihr Mann Mohammed - ihren Nachnamen wollen sie für sich behalten - waren von der französischen Grenzpolizei in den Bergen aufgegriffen worden.
Nun gibt ihr ein Helfer von der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" einen Becher Tee und eine Adresse in der wenige Kilometer entfernt liegenden Grenzstadt Ventimiglia. Dort könne sie sich untersuchen lassen.
Sara ist im sechsten Monat schwanger und aus Guinea geflohen. Vor wenigen Wochen kam sie auf der italienischen Insel Lampedusa an und wurde dort registriert. Das Paar will aber nach Frankreich, denn dort lebt ein Onkel von ihr.
Der Versuch des Paars, ohne Aufenthaltsberechtigung in einen anderen EU-Staat wie Frankreich zu gelangen, ist illegal. Nach europäischen Regelungen kann es nur in Italien Asyl beantragen, weil es hier angekommen ist. Wer außerhalb des Aufnahmelandes aufgegriffen wird, muss zurück in das Land, in dem er EU-Boden betrat.
Für viele nur ein Durchgangsland
Dennoch versuchen wie Sara und Mohammed jährlich Zehntausende, von Italien aus nach Frankreich und Mitteleuropa weiterzuziehen. Allein nach Frankreich sollen es nach Angaben des Bürgermeisters von Ventimiglia jedes Jahr 20.000 Migranten sein. Und Deutschland stellte laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Jahr 2022 mehr als 14.000 Rücknahmeersuche an Italien - am Ende wurden in dem Zeitraum 362 Personen zurückgeführt.
Die italienisch-französische Grenze zu überwinden, ist schwierig. Bekannte Fluchtpfade durch die Berge entlang der Küste sind auf französischer Seite mittlerweile mit Zäunen unterbrochen.
Frankreich hat das Schengener Abkommen ausgesetzt, kontrolliert seit 2015 wieder die Grenzübergänge bis zu 30 Kilometer im Hinterland und begründet das mit Terrorismusgefahr. Migranten, die ohne Papiere, aufgegriffen werden, können ohne Verfahren umgehend nach Italien abgeschoben werden.
Italien klagt Solidarität ein
Italien wiederum ruft angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen nach mehr europäischer Zusammenarbeit und Solidarität. Die sonst nationalistisch argumentierende italienische Rechte fordert einen Stopp der französischen Grenzkontrollen und eine bessere Verteilung der Flüchtlinge.
Doch das scheitert aus vielen Gründen - auch an dem schlechten Verhältnis von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Präsident Emmanuel Macron. Macron sieht in Meloni eine Kopie seiner Konkurrentin Marine Le Pen und hat kein Interesse, Meloni entgegenzukommen und sie so zu stärken.
Der Bürgermeister verschärft die Bedingungen
Ventimiglia, wenige Kilometer entfernt vom Grenzübergang gelegen, ist für die Migranten die letzte Etappe vor dem Versuch, die Grenze zu überschreiten - ein Nadelöhr. Etwa 200 Flüchtlinge sollen derzeit nach Angeben der Kommune in der Stadt sein, sie schlafen am Strand oder am Bahnhof und sammeln sich, um einen nächsten Versuch zu starten, nach Frankreich zu gelangen.
Die Stadt reagiert mit harten Maßnahmen. Ventimiglias neu gewählter Bürgermeister Flavio di Muro von der rechten Partei Lega war genau mit diesem Versprechen angetreten. Nun hat er Zugänge zu Brücken mit Gittern absperren lassen, damit niemand mehr unter ihnen schlafen kann.
Vor dem Friedhof steht Wachpersonal, weil sich Flüchtlinge dort immer wieder gewaschen hatten. Eine alternative Waschmöglichkeit gibt es jedoch nicht und auch keine sicheren Schlafplätze. Eine frühere Versorgungseinrichtung wurde 2020 abgebaut und soll auch geschlossen bleiben. Wer als Flüchtling nicht in Italien bleiben wolle, für den sei Italien auch nicht zuständig, argumentiert di Muro.
Weil der Staat in Ventimiglia keine Hilfe anbietet, springen NGOs ein. "Ärzte ohne Grenzen", Caritas, die Waldensische Gemeinde - sie alle sprechen von einer "humanitären Notlage" in Ventimiglia. Durchziehende Migrantinnen und Migranten habe es dort immer schon gegeben, Italien müsse sich auch für sie verantwortlich fühlen, fordert Jacopo Colombo von der Hilfsorganisation WeWorld.
Der nächste Versuch ist schon geplant
In einer mobilen Krankenstation untersucht eine Gynäkologin von "Ärzte ohne Grenzen" die schwangere Sara - es ist das erste Mal, dass eine Ärztin ihren Zustand in Augenschein nimmt.
Frauenärztin Kalipso Leyla Trevisol von "Ärzte ohne Grenzen" erklärt, dass viele Frauen, die auf der Flucht sind, medizinische Hilfe bräuchten. Bei Sara und ihrem Fötus ist alles in Ordnung. Sara bekommt noch ein Schmerzmittel, dann gehen sie und Mohammed zum Bahnhof. Auf dem Vorplatz wollen sie sich eine Ecke suchen, ein bisschen schlafen und dann wieder versuchen, nach Frankreich zu kommen. Dieses Mal vielleicht versteckt in einem Zug.
Dass Sara eigentlich Ruhe bräuchte, dass es immer wieder auch tödliche Unfälle an der Grenze gibt: Es spielt für sie keine Rolle. Die Flucht durch die Sahara und die Überfahrt von Tunesien nach Lampedusa seien deutlich schlimmer gewesen, sagt Saras Mann. Der Weg hinüber nach Frankreich sei hingegen eine Kleinigkeit. Das Ziel: Es scheint ihnen immer noch so nah.