Ein Schild mit der Aufschrift "Cour de Justice de l'Union Européenne" steht vor dem Europäischen Gerichtshof (Archivbild: 15.06.2019)

EuGH zu Abschiebung Kranker Abschiebestopp nur bei stärkeren Schmerzen

Stand: 22.11.2022 13:44 Uhr

Darf ein Kranker abgeschoben werden, wenn ihm im Aufnahmeland eine Schmerztherapie versagt werden würde? Nein, urteilt der Europäische Gerichtshof. Dafür gelten jedoch hohe Anforderungen.

Von Kerstin Anabah und Max Bauer, ARD-Rechtsredaktion

Der Mann aus Russland ist 34 Jahre alt und leidet seit seinem 16. Lebensjahr an einer seltenen Blutkrebserkrankung. Seine Erkrankung wird in den Niederlanden behandelt, und gegen seine Schmerzen wird er dort zusätzlich mit medizinischem Cannabis therapiert. Allerdings droht ihm die Abschiebung, weil sein Asylantrag abgelehnt wurde und er damit ausreisepflichtig ist.

Der Mann wehrt sich gegen die Abschiebung. Denn: In Russland ist die Schmerztherapie mit Cannabis nicht gestattet. Der erkrankte russische Kläger bringt vor: Ohne die Cannabis-Therapie seien seine Schmerzen so groß, dass er nicht mehr schlafen oder essen könne. Depressionen und Suizidgedanken seien die Folge, wenn seine Schmerzen nicht mit Cannabis medizinisch behandelt würden. Andere Schmerztherapien würden bei seiner Krebserkrankung gegen die Schmerzen nicht helfen.

Abschiebestopp sonst nur bei Verschlechterung des Zustandes

Nach europäischem Recht kann die Abschiebung eines Schwerkranken eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und damit rechtswidrig sein. Allerdings gibt es ein solches Abschiebeverbot nur in außergewöhnlichen Fällen. Nur wenn sich der Gesundheitszustand eines Kranken schnell und stark zu verschlechtern droht, wurden Abschiebungen in der Vergangenheit gestoppt. Das ist die Linie des EuGH und auch des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg.

Im Fall des russischen Asylbewerbers gibt es eine Besonderheit. Seine Krebserkrankung könnte in Russland behandelt werden. Nicht jedoch die schweren Schmerzen, die mit der Krebserkrankung einhergehen. Denn: Medizinisches Cannabis ist in Russland nicht legal erhältlich.

Der Generalanwalt am EuGH hatte beantragt, in solchen Fällen ein Abschiebehindernis anzuerkennen. Wenn im Herkunftsland eines abgelehnten Asylbewerbers die einzige wirksame schmerzstillende Behandlung nicht verfügbar sei, sei es unmenschlich ihn abzuschieben.

"Rasche, erhebliche und unumkehrbare Zunahme" der Schmerzen

Der Europäische Gerichtshof sagt nun: Eine Zunahme der Schmerzen kann die Abschiebung verbieten, wenn im Herkunftsland keine ausreichende Schmerztherapie zur Verfügung steht. Allerdings bleibt der EuGH bei den hohen Anforderungen an dieses Abschiebehindernis. Nur wenn eine "rasche, erhebliche und unumkehrbare Zunahme" der Schmerzen nach der Abschiebung droht, besteht eine Abschiebeverbot.

Eine feste Frist, wann nach der Abschiebung die erhebliche Zunahme von Schmerzen auftreten müsste, hat der EuGH jedoch abgelehnt. Die niederländischen Gerichte hatten bisher nur Verschlechterungen des Gesundheitszustandes als Abschiebehindernis berücksichtigt, die innerhalb von drei Monaten nach Abbruch einer Behandlung auftreten.

Das Urteil kann in Einzelfällen Auswirkung auf die Auslegung des deutschen Rechts haben. Die deutschen Ausländerbehörden müssen nun berücksichtigen, dass schwere Schmerzen ein Hindernis für eine Abschiebung sein können.

EuGH-Aktenzeichen C-69/21

Max Bauer, ARD-Rechtsredaktion, 22.11.2022 12:24 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 22. November 2022 um 14:00 Uhr.