Anucha Angkaew

Erntehelfer aus Thailand Wie Anucha Angkaew als Geisel der Hamas überlebte

Stand: 12.12.2023 11:52 Uhr

Als Erntehelfer kam der Thailänder Anucha Angkaew nach Israel. Von Hamas-Terroristen wurde er in den Gazastreifen verschleppt. Nach 50 Tagen kam er frei. Nun berichtet er von Schüssen, Schlägen - und seinen Zukunftsplänen.

Mit einem Kugelschreiber zeichnet Anucha Angkaew den Grundriss eines Raums auf ein Stück kariertes Papier. Hier wurde er als Geisel gehalten. "Da war die Tür, draußen stand einer von der Hamas. Hier ist die Toilette", erzählt der 28-Jährige der Nachrichtenagentur Reuters.

Als am Morgen des 7. Oktober die Hamas angriff, versteckte er sich mit fünf weiteren Thailändern in einem Bunker. Nach einer Stunde hörten sie Stimmen, gingen nach draußen und erwarteten israelische Soldaten. Stattdessen trafen sie auf zehn bewaffnete Hamas-Terroristen. Die schwarzgekleideten Männer nahmen sie mit. Zwei Thailänder erschossen sie noch vor Ort. Der eine war ein guter Freund von Angkaew.

Drei Mal wurde die Gruppe verlegt

30 Minuten lang wurden sie in einem Pick-up nach Gaza gefahren. Dort verbrachten sie vier Tage im Erdgeschoss eines verlassenen Gebäudes. "Sie haben uns zuerst in ein verlassenes Haus gebracht, das aussah wie eine Lagerhalle", sagt Anucha Angkaew. Bevor die Hamas-Terroristen ihm und den anderen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden hätten, seien sie kontrolliert worden, ob sie irgendwelche Waffen besäßen.

Seine Handgelenke zeigen immer noch Spuren der Fesseln. Neben den vier Thailändern saß ein 18-jähriger Israeli. Angkaew kannte ihn aus dem Kibbuz, wo er auf einer Avocadofarm arbeitete. Die Gruppe wurde nach einigen Tagen auf einen Pick-up gesetzt. Insgesamt wechselten sie drei Mal den Ort. Sie wurden geschlagen. Der Israeli besonders heftig mit Kabeln.

Eine Flasche Wasser für zwei Geiseln

Bevor es runter ins Tunnelsystem der Hamas ging, sei jeder von ihnen fotografiert worden, erzählt Angkaew. "Die ersten Tage haben wir nicht gesprochen. Der Raum, in dem wir saßen, war nicht groß. Vielleicht anderthalb mal zwei Meter." Sie schliefen auf sandigem Boden, bekamen zwei Mal am Tag Fladenbrot und eine Flasche Wasser, die sie sich zu zweit teilen mussten.

Wenn sie auf Toilette wollten, wurden sie von einem der acht bewaffneten Terroristen mit Maschinengewehr begleitet. Geduscht hätten sie nicht und auch nicht die Zähne geputzt. "Dann hätten wir kein Wasser mehr zum Trinken gehabt", erklärt der 28-Jährige.

Schachfiguren aus Zahnpasta-Verpackungen

Er zählte die Tage anhand der Mahlzeiten. Er ritzte Striche in den Boden, einen für jeden Tag. Am Ende war er 50 Tage Geisel der Hamas. Als sie den Raum unterirdisch wechselten, liefen sie an Metalltüren vorbei, die in regelmäßigen Abständen in die Tunnelwand eingelassen waren.

Unterdessen verhandelten mehrere thailändische Akteure oberirdisch über die Freilassung der Geiseln. Deren Gefängnis wurde größer. Sie konnten nun auf Plastikplanen schlafen und bekamen mehr Essen wie Nüsse, Butter oder Reis. Geschlagen wurden sie fortan nicht mehr.

Ein Terrorist vergaß einen Stift in ihrem Raum, mit dem sie ihre Namen und Nationalitäten aufschreiben sollten. Mit dem malten sie Tattoos und ein Schachbrett auf die weiße Plastikplane. Die Spielfiguren formten sie aus einer pink-grünen Zahnpasta-Verpackung.

Zweistündiger Marsch durch den Tunnel

Angkaew und seine Mitgefangenen bekamen von den israelischen Luftangriffen oben nichts mit. Am Tag ihrer Freilassung hatte ein Hamas-Terrorist nur gesagt: "Thailänder, ihr könnt nach Hause." Eine israelische Geisel half beim Übersetzen. Sie liefen daraufhin fast zwei Stunden durch Tunnel. Ihre Augen waren verbunden, erzählt er.

Dann kamen er und seine Mitgefangenen an die Oberfläche, wo auch schon israelische Frauen und Kinder warteten. Sie alle wurden gemeinsam dem Roten Kreuz übergeben. "Ich wünsche mir, dass sie aufhören zu kämpfen", sagt Angkaew. Ihm täten die Thailänder leid, die wie er nach Israel zum Arbeiten gegangen seien und nichts über den Konflikt gewusst hätten.

Einige wollen wieder als Erntehelfer arbeiten

Rund zehn Thailänder sind noch in der Hand der Hamas. Anucha Angkaew ist inzwischen zurück bei seiner Frau und seiner siebenjährigen Tochter. Im Fußballballtrikot läuft er durch sein modernes Haus in seiner Heimat Udon Thani im Nordosten Thailands. Gebaut hat er es mit dem Geld, das er in Israel verdient hat.

In wenigen Wochen will er hier mit seiner Familie einziehen. Die thailändische Regierung verspricht den Rückkehrern Geld für einen Neustart in der Heimat. Doch die israelische Regierung bietet mehr Geld und bessere Schutzräume. Sie ist auf Erntehelfer wie Anucha Angkaew angewiesen.

Doch er will nicht zurück, einige seiner ehemaligen Mitgefangenen schon.

 

Jennifer Johnston, ARD Singapur, tagesschau, 12.12.2023 09:00 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 12. Dezember 2023 um 11:48 Uhr.