Interview

Bilanz des "Afghanischen Tagebuchs" "Wir bleiben ein Notfall"

Stand: 26.12.2015 02:27 Uhr

Zwei Jahre lang hat das "Afghanische Tagebuch" der ARD die Menschenrechtlerin Sima Samar begleitet. Im Abschlussinterview am 6. Dezember 2015 in Kabul zieht die Ärztin eine ernüchternde Bilanz. Sie sagt: Auch heute noch werden vielen Afghanen fundamentale Menschenrechte verweigert.

tagesschau.de: Sima, wie geht es Ihnen? Als wir uns das letzte Mal Ende September getroffen haben, ging es Ihnen nicht gut. Sie konnten die Tränen nicht zurückhalten.

Sima Samar: Ich lebe seit 38 Jahren mit diesem Konflikt. Wenn ich die Hoffnung aufgeben würde, würde ich nicht mehr existieren. Es ist nicht leicht. Auch heute ist ein schwerer Tag. Ich bin ein Mensch, ich bin nicht aus Stein. Ich habe Gefühle. Aber zu weinen ist auch ein Akt des Widerstands. Das rede ich mir ein wenn ich weine.

tagesschau.de: Auch heute ist ein schwerer Tag? Warum?

Sima Samar: Das Töten überall. Jeden Morgen berichten die Nachrichten über getötete Taliban. Aber sind das alles Taliban? Außerdem: Jemanden zu töten ist niemals eine gute Nachricht. Und wenn du dir diese Welt anguckst, dann musst du dir Sorgen machen.

Ich bin enttäuscht, dass die mächtigsten Politiker dieser Welt nicht aus Fehlern lernen. Sie beginnen neue Kriege. Kriege gegen wen? Kriege für was? Gegen was? Um noch mehr Menschen zu töten? Sollen wir auf dieses Töten stolz sein?

Der Krieg in Afghanistan zeigt doch sehr deutlich, dass Bomben und Töten den Konflikt nicht beenden können. Die mächtigen Staaten der entwickelten Welt müssen umdenken.  Diese Länder behaupten, dass sie für die Menschenrechte einstehen und die Demokratie fördern.

Für mich würde das konkret bedeuten: Mehr Unterstützung für Qualitätsbildung. Mehr Unterstützung für Entwicklungsprojekte, deren Maßstab die Menschenrechte sind! Die Schaffung von Arbeitsplätzen. Mehr Respekt für die Menschenrechte als Maßstab der Politik. Das wäre in meinen Augen eher eine Lösung als immer neue Bomben. Und es wäre sicher auch billiger.

Ich kann nur ahnen, wie viel Geld hier in den afghanischen Krieg geflossen ist. Während der sowjetischen Besatzung, während des Bürgerkriegs, während des Taliban-Regimes und danach. Und dann stelle ich mir vor, wie viel Geld zeitgleich in Bildung geflossen ist… 

tagesschau.de: Wo steht Afghanistan  heute im Vergleich zur Zeit des Taliban-Regimes?                          

Sima: Samar Wir sind nirgendwo. Nirgendwo. Wir sind in einer Grauzone. Nehmen wir das Beispiel Gewalt gegen Frauen. Ja, wir reden heute viel mehr über die Rechte der Frauen als noch vor 20 Jahren. Aber was haben wir praktisch wirklich erreicht? Was haben wir nachhaltig erreicht? Es gibt unbestritten Fortschritte, ja, aber was bleibt von den Worten und Versprechen im Krieg übrig?   

Mehr Kinder in den Schulen, weniger Mütter, die sterben. Gute Nachrichte, aber geht es uns bei diesen Nachrichten vielleicht nur um gute Projektberichte? Lügen wir uns und andere an, um positive Trends zu vermitteln? Belügen wir uns Afghanen und die internationale Gemeinschaft, um uns zu beruhigen? Und dann ist die Lüge in der Welt und wir führen alle in die Irre. Fakt ist: viele Menschen in Afghanistan haben keinen Zugang zu Bildung und zu medizinischer Versorgung. Ihnen werden die Menschenrechte verweigert.

tagesschau.de: Wir erinnern uns noch gut an Ihre Euphorie für die Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2014. Was ist daraus geworden? Was hat diese Wahl verändert?

Sima Samar: Ich gebe zu, dass Wahlen nicht immer für mehr Wohlstand und mehr Demokratie sorgen. Aber es ist ein kleiner Splitter der Demokratie. Für uns in Afghanistan trifft das zu, vor allem für ältere Bürgerinnen und Bürger. Viele haben zum ersten Mal von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht um etwas zu verändern. Das ist und bleibt etwas Positives.

Uns war klar, dass das keine freien und fairen Wahlen sein würden, aber wir wollten eine glaubwürdige Wahl. Doch am Ende fehlte selbst die Glaubwürdigkeit. Jetzt haben wir eine Regierung der nationalen Einheit. Und mein Rat an die beiden politischen Führer ist, die demokratische Entwicklung unseres Landes zu fördern anstatt ihre eigene Netzwerke zu bedienen. Präsident Ashraf Ghani und Regierungschef Abdullah Abdullah müssen ihre Versprechen einhalten. Sie müssen weniger versprechen und mehr Ergebnisse liefern. Es geht für die Menschen in Afghanistan um die Basis. Es geht ums Überleben.  

tagesschau.de: Was fordern Sie von Ghani und Abdullah?

Sima Samar: Die beiden sind diejenigen, die Hoffnung vermitteln sollten. Aber es geht nicht nur um die beiden alleine. Entwicklungsgelder werden abgezogen. Es gibt ein Defizit im Haushalt. Der Truppenabzug der NATO hat viele Arbeitsplätze gekostet. Es gibt keine Arbeitsplätze für unsere Jugend. Und dann sehen und erleben diese Jugendlichen immer mehr Gewalt und immer mehr Terroranschläge. Der Feind hat große Propagandaerfolge. Denken wir an den Fall von Kundus. Darum schicken die Familien ihre Jungen raus. Vor allem Jungen, aber auch Mädchen. Um sie zu retten.

tagesschau.de: Sind das alles Flüchtlinge, die vor der schlechten Sicherheitslage fliehen?

Sima Samar: Ja und nein. Es kommt noch etwas anderes dazu. Wenn du Menschen Bildungschancen eröffnest, geben sie sich nicht mehr mit den ganz kleinen Jobs als Tagelöhner zufrieden. Und auch die Jobs als Tagelöhner brechen weg. Unsere Jugend will arbeiten und ihre Bildung nutzen. Aber es gibt einfach keine Arbeit für sie. Keine Arbeit und wenig Sicherheit. Viele Studenten, die im letzten Uni-Jahr waren, haben in diesem Jahr nur einen Monat vor ihren Examen abgebrochen, um nach Europa zu fliehen, bevor dort die Tür ins Schloss fällt.

Aber auch hier geht es wieder um die Frage der Verantwortlichkeit. Wer schmuggelt sie nach Europa? Wir wissen alle, dass hier Mafia-Netzwerke ihre Finger im Spiel haben. Warum greift niemand ein? Ein Visum für die Türkei kostet auf dem Schwarzmarkt etwa 6000 Dollar. Wer ist dafür verantwortlich?

tagesschau.de: Welche Rolle spielt die internationale Staatengemeinschaft?

Sima Samar: Die internationale Gemeinschaft trägt Verantwortung für die Zustände in Afghanistan. Sie hat im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion dazu beigetragen, dass hier in Afghanistan extremistische, fundamentalistische Kräfte wachsen.

Die militärische Intervention gegen das Taliban-Regime war verbunden mit dem Versprechen, für die Menschenrechte, vor allem für die Rechte der Frauen einzustehen. Doch Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit waren kaum ein Teil der Intervention. Und dann kam der schnelle Rückzug, ohne sicher zu sein, dass das Land halbwegs stabil auf eigenen Füßen stehen kann.

Wir sollten keine halben Sachen machen. Sind wir fertig mit den Menschenrechten, mit den Rechten der Frau? Schauen Sie sich die Zahlen an. Wie viel Geld geben die Geberländer für den Krieg und für die Förderung der Menschenrechte? Diese Kommission ist in finanziellen Schwierigkeiten. Aber wer könnte die Menschenrechte in Afghanistan besser fördern als wir?

Syrien erinnert mich an Afghanistan. Alle mischen mit. Es ist ein Wettlauf der Mächte, Flugzeuge und Bomben zu schicken. Ich glaube, wir wissen oft nicht, wer Freund ist und wer Feind. Meine Definition von Freund und Feind in Afghanistan ist sicher anders als die eines westlichen Politikers.  

tagesschau.de: Machen Sie sich Sorgen über den sogenannten Islamischen Staat, der versucht in Afghanistan Fuß zu fassen?

Sima Samar: Wenn es um den IS geht ist Afghanistan verwundbarer als andere Länder. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die Taliban sind eine Realität. Sie verlieren untereinander an Respekt und treten unter einem neuen Namen auf. Unser Nachbarland wird beschuldigt, die Taliban zu unterstützen. Jetzt kann man dort sagen: "Das sind nicht die Taliban, das ist der IS, wir haben keine Kontrolle"

Es sind vermutlich die gleichen Leute, unter anderem Namen, mit einer anderen Flagge, die die Seite gewechselt haben. Und dann sind da die Kämpfer aus anderen Ländern, die bei uns leicht unterschlüpfen können.

tagesschau.de: Wie lange wollen Sie noch Vorsitzende der Menschenrechtskommission bleiben?

Sima Samar: Ich glaube an das, was ich tue. Älter zu werden hat seine Vor- und Nachteile. Mit dem Alter kommt die Erfahrung, aber du bist weniger mobil und du hast auch weniger Energie, um lange Tage durchzuarbeiten. Wir leben und arbeiten schon so lange als Notfall, wir sind immer noch ein Notfall.

Ich ziehe meine Energie aus den winzigen Verbesserungen, zu denen ich durch meine Arbeit beitragen kann. Es erfüllt mich und gibt mir Energie, auf der Seite der Schwachen und Notleidenden zu stehen. Diese Menschen brauchen Hilfe.

Ich will dieses Land nicht verlassen.  Es zwingt mich ja niemand, diese Arbeit zu machen. Das ist alleine meine Entscheidung. Ich mache das, weil ich es will. Außerdem weiß ich nicht, wie lange ich noch lebe. Wir sind Menschen, und Menschen sterben. Vor allem in einem Land wie Afghanistan, ihn dem du auch zu Hause nicht sicher bist. Und wenn ich zu einem Treffen fahre, weiß ich auch nicht, ob ich zurückkomme.

tagesschau.de: Was möchten Sie den Menschen in Deutschland zum Abschluss des Afghanischen Tagebuchs sagen?

Sima Samar: Ich hoffe, dass die Menschen in Deutschland Geduld mit den Flüchtlingen haben. Es wäre falsch, sie jetzt zurückzuschicken. Die Deutschen haben eine starke Anti-Kriegsbewegung.  Ich wünsche Ihnen, dass Sie weiter dazu beitragen, die Anti-Kriegsbewegung zu stärken!