Streetart-Künstler Gamlet bemalt Krater im Asphalt mit weißen Blumen und schreibt Zitate ukrainischer Philosophen und Schriftsteller auf die Wände.
reportage

Charkiw in der Ostukraine Eine Stadt im Widerstand

Stand: 10.05.2024 04:00 Uhr

Kaum eine andere Stadt in der Ukraine leidet so unter russischem Dauerbeschuss wie Charkiw im Nordosten. Wer bleibt, hat sich meist unter der Erde eingerichtet - und muss hartnäckig sein.

Von Birgit Virnich, ARD Kiew

Mit den gerade installierten Solarzellen auf dem Dach seiner Werkstatt in Charkiw ist Oleksij Jewsijukow zufrieden. Umgerechnet 20.000 Euro hat der 39-jährige Unternehmer investiert. Denn seine Frau und er wollen in Charkiw bleiben - trotz der massiven russischen Luftangriffe auf die Millionenmetropole. Jetzt haben seine zehn Schneiderinnen durchgehend genügend Strom, obwohl 80 Prozent der Heizkraftwerke in und um Charkiw herum beschädigt sind. Meistens nähen sie bei Flugalarm sogar in der Werkstatt im Keller weiter.

Badeanzüge und Sportkleidung finden gerade reißenden Absatz. Die Auftragsbücher sind voll. Fitness sei den Menschen wichtig, meint Jewsijukow, gerade jetzt während des Krieges: "Sie sehen das nicht als Luxus, sondern als eine Art sich fit zu halten." Charkiw ist eine Universitätsstadt. Hier leben viele junge Menschen, die sich bewusst entschieden haben, zu bleiben und den Russen Widerstand zu leisten.

Unternehmer Oleksij Jewsijukow hat gerade 20.000 Euro investiert und Solarpanelen montieren lassen, um seinen Schneiderbetrieb am Laufen zu halten.

Unternehmer Oleksij Jewsijukow hat gerade 20.000 Euro investiert und Solarpanelen montieren lassen, um seinen Schneiderbetrieb am Laufen zu halten.

Streetart aus ukrainischer Kultur

Vor dem russischen Einmarsch haben hier 250.000 Studierende gelebt, jetzt studieren einige von ihnen im Ausland oder online, viele seien aber auch geblieben, erzählt Streetart-Künstler Gamlet Schynkowskyi, bekannt geworden nur unter seinem Vornamen. Gamlet führt vorbei an Trümmern in der historischen Innenstadt. Einige der Krater, die die Gleitbomben und Raketen der Russen im Asphalt hinterlassen, bemalt er mit weißen Blumen und den genauen Daten des Aufpralls. An die Gebäudewände von Charkiw schreibt er Zitate ukrainischer Philosophen und Schriftsteller. Jetzt sei die Zeit, die unterdrückte ukrainische Kultur wiederzuentdecken, meint Gamlet. Denn ein Volk ohne Kultur habe keine Wurzeln.

Schon einmal hat Stalin in den 1920er und 1930er Jahren ukrainische Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller hier in Charkiw erschießen lassen. "Deswegen dürfen wir jetzt nicht weichen", sagt Gamlet. Charkiw sei immer eine Stadt der Underground-Kultur gewesen - "und jetzt ist das unsere Art zu überleben." Eine Stadt gräbt sich ein. Clubs, Kinos, improvisierten Konzerthallen, Werkstätten und eine Schule sind mittlerweile unter die Erde verlegt worden. "Wir sind da sehr erfinderisch," sagt Gamlet und zieht an seiner Zigarette.

Streetart-Künstler Gamlet bemalt Krater im Asphalt mit weißen Blumen und schreibt Zitate ukrainischer Philosophen und Schriftsteller auf die Wände.

Streetart-Künstler Gamlet bemalt Krater im Asphalt mit weißen Blumen und schreibt Zitate ukrainischer Philosophen und Schriftsteller auf die Wände.

Bürgermeister arbeitet im Bunker

Auch Bürgermeister Ihor Terechow arbeitet in unterirdischen Schutzräumern an geheimen Orten, um nicht zum Ziel eines russischen Angriffs zu werden. Seit Beginn des Krieges versuchten die Russen Charkiw zu erobern, meint er: "Sie wollen hier die russische Flagge hissen. Für sie hat die Stadt eine symbolische Bedeutung."

Die Millionenmetropole wird immer wieder massiv mit Drohnen, Raketen und Gleitbomben von Russland aus attackiert. Bei einer Reichweite von von 80 Kilometern brauchten die Gleitbomben nach Abschuss etwa 35 bis 40 Sekunden bis zu ihrem Ziel, erklärt Terechow. Den Flugalarm hören die Menschen erst, nachdem die Bomben eingeschlagen sind. "Sie haben keine Chance." Jeden Tag stürben durch den Beschuss Menschen oder würden verwundet, niemand könne sich sicher sein, den Tag zu überleben. Charkiw sei eine Art Front, meint Terechow: Die Stadt brauche schnellstens moderne Flugabwehrsysteme und weitreichende Raketen, um die Bevölkerung zu schützen.

Terechow kommt gerade aus einer Ratssitzung, bei der er den Beschluss durchgebracht hat, jegliche Steuern für Unternehmen erst einmal auszusetzen. So will er verhindern, dass Betriebe massenhaft abwandern. Öffentliche Verkehrsmittel sind auch gratis. Schließlich habe die Stadt 500.000 Binnengeflüchtete aufgenommen. Es dürfe den Russen nicht gelingen, die Menschen aus Charkiw zu vertreiben, betont er: "Charkiw war die erste Hauptstadt der Ukraine und wir werden uns nicht beugen."

Thermounterwäsche statt Badehosen

Auch in der kleinen Werkstatt von Oleksij und seiner Frau Viktorija Warenikowa reden sie oft darüber. "Ich würde diese Stadt nie verlassen", meint die Schneiderin Olena. Es gehe nicht um Besitz, sondern darum, dass man seine Sachen packen müsse und woanders als Bittstellerin anfange. Doch lange halte sie das nicht mehr aus, sagt sie unter Tränen. Die ständige Angst und das Gefühl, den Raketen der Russen ausgeliefert zu sein, zehre an ihren Kräften. Beim Gedanken an die Zukunft ihre Kinder weint sie.

"Wir lieben diese Stadt", erklärt Warenikowa. Deswegen machten sie alles, um die Jobs in ihrem Betrieb zu sichern. Im vergangenen Winter hätten sie oft bei Kerzenlicht genäht, erzählt sie. Denn die Generatoren, die sie angeschafft hatten, waren dreckig, laut und mussten ständig gewartet werden. Seit sie die Sonnenkollektoren angebracht hätten, könnten sie wieder vernünftig arbeiten. "Nur wenn die Wirtschaft läuft, können wir diesen Krieg überleben", sagt sie.

Mit ihren Nähmaschinen, die sie eigens dafür angeschafft haben, Bademode zu schneidern, nähen sie nun oft auch Uniformen für die Soldaten. Demnächst wollen sie die Energie aus den Solarzellen nutzen, um den Soldaten Thermounterwäsche für den Winter zu nähen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das ARD Morgenmagazin am 10. Mai 2024 um 05:42 Uhr.