Krawalle auf der Straße in Frankreich

Nordrhein-Westfalen Nach Polizeigewalt in Frankreich: Weitere Krawalle - Mann kommt ums Leben

Stand: 01.07.2023 10:51 Uhr

Nach dem tödlichen Polizei-Schuss auf einen Jugendlichen bei Paris kam es in Frankreich die vierte Nacht in Folge zu Unruhen. Warum kommt es dort so oft zu Polizeigewalt?

Von Jörn Seidel

Auch in der vierten Nacht nach dem Tod des 17-jährigen Nahel H. durch einen Polizei-Schuss ist es in ganz Frankreich zu schweren Krawallen gekommen. In der Nacht auf Samstag seien landesweit rund 1.300 Menschen festgenommen worden, teilte das Innenministerium mit. 79 Polizisten wurden verletzt.

Fast 1.000 Festnahmen bei vierter Krawallnacht in Frankreich nach Polizeigewalt | sv

Toter bei Unruhen in Französisch-Guayana

Demonstranten und Polizisten bei Ausschreitungen in Frankreich am 1. Juli 2023

Demonstranten und Polizisten bei Ausschreitungen in Frankreich, 01.07.2023

Die Unruhen griffen derweil nicht nur auf die belgische Hauptstadt Brüssel über, sondern auch auf französische Überseegebiete in der Karibik. In Cayenne, der Hauptstadt von Französisch-Guayana wurde am Donnerstagabend (Ortszeit) ein 54-jähriger Staatsbediensteter von einem Querschläger getroffen und getötet, als Beamte unter Beschuss gerieten, wie die Behörden mitteilten.

An diesem Samstag soll der am Dienstag bei einer Polizeikontrolle getötete 17-Jährige in seinem Heimatort Nanterre beerdigt werden.

Wie kam es am Dienstag zu dem Schuss auf den Jugendlichen? Und warum kommt es in Frankreich so oft zu Polizeigewalt? Fragen und Antworten.

Wie kam es zu dem tödlichen Polizei-Schuss, den auch ein Video zeigt?

Bei der Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre am Dienstagmorgen hatte eine Motorradstreife der Polizei ein mit drei Menschen besetztes Auto gestoppt. Ein vom Sender France Info verifiziertes Video zeigt, wie einer der Beamten seine Waffe auf Höhe der Fahrertür in das stehende Auto richtet.

Schuss ins Auto - 17-Jähriger bei Polizeikontrolle gestorben | sv

Die Situation scheint unter Kontrolle, hektische Bewegungen sind nicht zu erkennen. Als der 17-Jährige am Steuer plötzlich losfährt, feuert der Beamte aus nächster Nähe auf den Jugendlichen und trifft ihn tödlich in die Brust.

Das Auto fährt dann noch einige Meter weiter und rammt schließlich eine Straßenabsperrung. Ein Mitfahrer, ebenfalls minderjährig, wird festgenommen und später wieder freigelassen. Der weitere Mitfahrer ergreift laut Staatsanwaltschaft die Flucht.

Wie erklären die beteiligten Polizisten den Vorfall?

Laut France Info hatten die Streifenpolizisten zunächst ausgesagt, der Jugendliche habe sie überfahren wollen. Später seien sie von dieser Version wieder abgerückt und hätten erklärt, er habe ihren Anordnungen keine Folge geleistet und dann plötzlich Gas gegeben - von einer Tötungsabsicht war keine Rede mehr.

Jetzt sitzt der mutmaßliche Schütze in Untersuchungshaft. Gegen ihn wird wegen Totschlagsverdacht ermittelt.

Kommt es in Frankreich häufiger zu Polizeigewalt als in Deutschland?

Fabien Jobard

Fabien Jobard, Politikwissenschaftler

"Polizeigewalt ist in Frankreich viel verbreiteter als in Deutschland", sagt der Politikwissenschaftler Fabien Jobard dem WDR. Der Franzose, der selbst in einem Pariser Vorort lebt, ist Forschungsdirektor am nationalen Wissenschaftszentrum CNRS und hat sich schon oft mit Polizeigewalt beschäftigt.

Für einen nationalen Vergleich von Polizeigewalt gebe es keine klaren Zahlen, so Jobard. Man könne aber beispielhaft ein paar Zahlen aus Frankreich nennen, die man so in Deutschland bei Weitem nicht habe:

  • 13 Menschen starben in Frankreich allein im Jahr 2022 infolge von Polizei-Schüssen, während sie Auto fuhren.
  • 30 Menschen haben zwischen 1995 und 2018 durch Gummigeschosse der Polizei ein Auge verloren.
  • 25 weitere Menschen haben während der "Gelbwesten-Proteste" durch Gummigeschosse der Polizei ein Auge verloren.

Trotzdem: Die Anwendung von Gewalt durch die Polizei ist auch in Deutschland keine Seltenheit. Das zeigt unter anderem die umfangreiche Studie "Gewalt im Amt", an der auch Rechtswissenschaftler Tobias Singelnstein von der Ruhr-Uni Bochum mitgewirkt hat.

Wie kommt es zu der weit verbreiteten Polizeigewalt in Frankreich?

Die Polizei trete in Frankreich grundsätzlich viel aggressiver auf als in Deutschland, sagt Jobard. Das zeige sich zum einen in ihrem Verhalten, zum anderen in ihrer Ausrüstung.

Forschungen hätten gezeigt, dass vor allem bei Polizeieinsätzen in den Banlieues - also in den dicht besiedelten Vororten großer Städte, insbesondere Paris - "grundsätzlich konfrontative Handlungsmuster" zu erkennen seien.

Oft seien Polizisten bei der ganz normalen Streife mit Helm, Schutzanzügen und Hartgummiwaffen in der Hand unterwegs. Und statt freundlich um etwas zu bitten, herrsche ein Befehlston vor. Hinzu komme ein "gewisser Grad an Missachtung, der zu Gewalt führen kann", sagt Jobard.

Ändern lasse sich das alles nur schwer, meint er. Das hänge mit der besonderen wirtschaftlich-sozialen Situation in den Banlieues zusammen, aber auch mit den Polizeigewerkschaften, die in Frankreich sehr stark seien, und kein Interesse hätten, etwas zu ändern. Außerdem habe die Politik kaum Handlungsspielraum. Denn grundsätzlich wolle sie angesichts der hohen Terrorgefahr in Frankreich durchaus, dass die Polizei in der Lage ist, hart durchzugreifen.

Über dieses Thema berichteten wir am 01.07.2023 um 7.00 Uhr auch in den Hörfunknachrichten, unter anderem bei WDR5.