Unterrichtsausschluss nach Angriffen - Verhaltensauffälliger Berliner Schüler darf wieder zur Schule gehen

Mo 29.04.24 | 15:25 Uhr
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Symbolbild: Schüler einer Grundschule arbeiten in einem Klassenzimmer an Mathematikaufgaben. (Quelle: dpa/Weißbrod)
Audio: rbb 88,8 | 29.04.2024 | Anke Michel | Bild: dpa/Weißbrod

Ein autistischer Schüler soll Lehrkräfte angegriffen haben und wurde dafür vom Unterricht ausgeschlossen. Doch ein Berliner Verwaltungsgericht sieht keine Rechtsgrundlage für den Unterrichtsausschluss.

  • autistischer Fünftklässler soll zwei Lehrkräfte mit Schere angeriffen haben
  • Schulpflicht kann laut Berliner Schulgesetz vorübergehend ruhen
  • Berliner Verwaltungsgericht sieht jedoch keine Rechtsgrundlage für den Unterrichtsausschluss

Ein verhaltensauffälliger Schüler aus Berlin darf laut einem Gerichtsbeschluss vom vergangenen Donnerstag (25. April) vorläufig wieder in die Schule. Er war seit Anfang März vom Unterricht ausgeschlossen. Zuerst hatte der "Tagesspiegel" über den Gerichtsbeschluss berichtet [kostenpflichtiger Inhalt]. Der Beschluss liegt dem rbb vor. Das Berliner Verwaltungsgericht sieht für den Unterrichtsausschuss demnach keine hinreichende Rechtsgrundlage.

Gewalttätig gegenüber Lehrkräften

Geklagt hatten die Eltern. Die Schulpflicht des Schülers ruhte zuletzt seit mehreren Wochen. Der Schüler mit Autismus hatte zuvor die fünfte Klasse besucht. Gemeinsam mit vier anderen Kindern lernte er in einer Kleinklasse für Autisten, beschult von einer Lehrkraft, einer pädagogischen Unterrichtshilfe und einer Betreuerin.

Der Schüler habe sich Mitschülern und Lehrkräften gegenüber gewalttätig verhalten, begründete die Bildungsverwaltung seinen Ausschluss vom Unterricht. So soll er seiner Klassenlehrerin eine Schere an den Hals gehalten und eine andere Lehrerin mit einer Schere in den Rücken gestochen haben.

Den Unterricht wieder zu besuchen, sollte für den Schüler unter anderem erst nach Einzelbeschulung und einer schrittweisen Annäherung an eine Gruppenbeschulung möglich sein - so der Wiedereingliederungsplan der Bildungsverwaltung. Die Schule habe zuvor bereits alle anderen Möglichkeiten erfolglos ausgeschöpft.

"Erheblicher Eingriff in das geschützte Recht auf Bildung"

Laut dem Berliner Schulgesetz kann für Schülerinnen und Schüler die Schulpflicht "vorübergehend ganz oder teilweise ruhen". Spätestens nach drei Monaten muss eine solche Entscheidung erstmalig überprüft werden.

Das Verwaltungsgericht sieht allerdings keine rechtliche Grundlage, den Schüler vom Unterricht auszuschließen. Denn der entsprechende Passus des Schulgesetzes sei nicht mit verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbar, also rechtswidrig. In dem Ausschluss vom Unterricht sieht das Gericht "einen erheblichen Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Recht des Schülers auf Bildung".

Mit Blick auf den Absatz in Paragraf 41 (3a) des Berliner Schulgesetzes zum Ruhen der Schulpflicht heißt es in der Eilentscheidung des Gerichts zudem, es bleibe offen, "welchen Zweck die Regelung hat, welche Voraussetzungen für ein Ruhen der Schulbesuchspflicht gegeben sein müssen und nach welchen sachlichen Kriterien sich die Entscheidung der Schulaufsichtsbehörde hierüber [...] bestimmt."

Die Bildungsverwaltung hat sich bisher nicht geäußert, welche Konsequenzen sie aus dem aktuellen Beschluss des Verwaltungsgerichts zieht. Es handelt sich um eine vorläufige Entscheidung. Gegen den Beschluss kann Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingereicht werden. Eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren steht noch aus.

Sendung: rbb 88,8, 29.04.2024, 15:30 Uhr

32 Kommentare

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  1. 31.

    In den Kommentaren vermengen sich mehrere Themen, was so nicht zielführend ist.

    Rechtlich geht es nicht um eine Grundrechtsabwägung mit dem Recht auf Bildung hier und dem Recht auf Unversehrtheit dort. Es geht schlicht darum, dass in Grundrechte nur per Gesetz eingegriffen werden darf und dies an Begründung bzw. Tatbestandsmerkmale geknüpft sein muss. Die bisherige Regelung um Berliner Schulgesetz ist willkürlich und verfassungswidrig.

    Autismus überhaupt als Krankheit und nicht als Varianz zu betrachten, ist schon der erste Fehler, der kategorisierend, wertend von Medizin und Gesellschaft vorgegeben wird. Gerade pädagogisch sind solche Kategorien irrelevant. Jeder Mensch ist anders, einzigartig, ergo können (junge) Menschen weder in Form gegossen noch mit Lehrinhalten befüllt werden.

    Näher liegen bei dem Fall wiederholte Übungen für den Jungen bzgl. Impulskontrolle, gewaltfreie Kommunikation etc., selbstredend ohne Schere. Das ist auch für Autist*innen möglich.

  2. 30.

    Und dann wundert man sich, warum niemand mehr Lehrer werden will... Unglaublich und nicht nachvollziehbar dieses Urteil. Nicht nur muss man die Lehrkräfte schützen sondern auch die anderen Kinder.
    Ich würde mich an eine andere Schule versetzen lassen.

  3. 29.

    Hier geht es um ein Kind, welches aufgrund einer Erkrankung/Behinderung seine Emotionen nicht kontrollieren kann. Dies ist kein Fall von Erziehungsversagen.

  4. 28.

    Natürlich ist die Gesellschaft nicht Schuld.Autismuswie auch Asperger sind Krankheiten, die verschiedene Symptome aufweisen. Dazu gehören. auch aggressive Schübe, die besonders bei Druck auftreten. Man sollte das Kind also nicht verteufeln, sondern mit den Eltern einen Weg suchen, dem Kind psychologische Hilfe zukommen zu lassen . Das Helios - Klinikum in Buch hat z.B. eine kinderpsychologische Station, teilweise können sogar die Eltern gemeinsam mit ihrem Kind aufgenommen werden.

  5. 27.

    Dieselkraft, es nicht um Betreuung, sondern um Teilhabe und Bildung. Sie scheinen jedoch vielleicht so 'wohlgeraten' zu sein, dass Ihnen das eins ist. Hetze ist leicht, lieber Dieselkraft, besonders gegen Menschen, die entweder jung, oder anderweitig in ihren Mitteln eingeschränkt werden, selber für sich einzustehen im großen Ganzen. Aber klar, Ihre Hilflosigkeit zu diesem Thema, habe ich gelesen und zur Kenntnis genommen. Ich hoffe nur, dass nicht jeder sich hinter verschränkten Armen, abwehrend zurückzieht.

  6. 26.

    Na dann los! Betreuen Sie doch dieses wohlgeratene Kind. Tun Sie sich mit Kommentator @21 zusammen, dann sind Sie schon zu zweit. Klug reden ist einfach.

  7. 25.

    Wenn bei den Schülern kein Anstand und Pflichten einfordert werden darf, was bedeutet das denn, was man sich da heranzieht? Rechte kennende selbstbestimmte Menschen?

  8. 24.

    Man muss sich doch auch. fragen, was die beiden anderen Betreuer in der Situation getan haben. Es ist ja bekannt, dass Autisten (nicht alle) zu unberechenbaren Ausbrüchen neigen . Schon der Besitz einer Schere sollte zu vermehrter Aufmerksamkeit aller erwachsenen Betreuer führen.

  9. 23.

    Um die Geschädigten tut es mir sehr leid! Aber ein endgültiger Ausschluß vom Unterricht sollte das letzte Mittel bleiben. Das Recht auf Unversehrtheit unangetaste. Es gibt durchaus auch weitere Möglichkeiten, die mit den Eltern entwickelt werden können, als ein Versagen von Bildung.
    Ich lese hier nur Schwarz und Weiß. Aber als Erzieher habe ich gelernt, in Farbenvielfalt zu denken. Sich vom Rechtsstaat abwenden, weil mir ein Urteil nicht gefällt, gehört nicht dazu. Schade...

  10. 22.

    Der Schutz eines offensichtlichen gestörten Jugendlichen geht vor!!! Lehrer müssen mit Beleidigungen und körperlicher Gewalt gegen die eigene Person leben. Das kann doch irgendwie nicht normal sein??? Der Betreffende gehört nicht an eine Schule. Aber das merken wir erst, wenn noch schlimmere Dinge passiert sind. Dann stellen kluge Behörden fest, dass zahlreiche andere Stellen komplett versagt haben und es beginnt erneut die Suche nach einem neuen Schuldigen.

  11. 21.

    Schade, dass in den Kommentaren der Bezug zum Inhalt fehlt. Es gibt Graubereiche, die möglich gewesen wären, deren Fehlen im Urteil selbst nachzulesen sind. Von dem Vorfall abgesehen, gibt es Internetschulen oder Angebote, die wenigstens in dieser Zeit angeboten werden können. Das ist aber wieder schwer und langwierig umzusetzen, wäre aber wenigstens im Ansatz hilfreich, vielleicht. Weiterhin kann auch mit der Schule, wenn sie eh schon eine Schwerpunktschule ist, ausgehandelt werden, wie in der Zwischenzeit Teilhabe und Bildung gewährt werden können. Isolieren eines Kindes, das Lernen soll und darf sich in der Gesellschaft, trotz Widrigkeiten zu bewegen, kann schlecht zum Erfolg führen, da man sowas nicht unbedingt vom Papier lernt. Und sofort zur Klinik und zu Medikamenten zwingen zu wollen, wie manche Kommentare hier verlauten lassen, lässt darauf schließen, das die Kreativität und das Einfühlungsvermögen, der dies Schreibenden, selbst begrenzt sein könnte,also ist das Urteil wichtig

  12. 20.

    Ich bin einfach nur entsetzt über diese Entscheidung des Gerichts. Das hat doch mit vernünftiger Rechtsprechung nichts mehr zu tun. Lehrkräfte müssen also um ihre Gesundheit, vllt sogar um ihr Leben fürchten bei solchen Schülern. Und dann wundert man sich, dass Menschen sich von diesem Rechtsstaat abwenden. Das ist wirklich unfassbar.

  13. 19.

    Als Lehrkraft und auch als Betreuungsperson hat man keine Rechte auf körperliche Unversehrtheit. Das Kind müsste erstmal in die Klinik und sehr wahrscheinlich medikamentös behandelt werden um überhaupt beschulbar zu sein. Aber wird wie immer komplett ignoriert. Wer soll denn dann diesen Beruf noch machen? Menschen die in Messerabwehr Techniken ausgebildet sind?

  14. 18.

    Es geht hier allerdings nicht um eine irgendwie geartete Abweichung von der Norm, sondern um ganz konkrete Gewalttaten.

  15. 17.

    Sie sehen das falsch: Irgendwie ist - wie uns seit fünfzig, sechzig Jahren von gewissen Kreisen erklärt wird - an jedem Fehlverhalten, natürlich auch jedem psychischen Problem, immer die Gesellschaft schuld. Dementsprechend ist es auch nur gerecht, wenn die Gesellschaft bestraft wird.

  16. 16.

    In diesem Punkt muss das Oberverwaltungsgericht ggf. korrigieren:
    Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sind höher anzusiedeln.

  17. 15.

    Wenn ich das Gericht richtig verstanden habe, möchte es einen Ausschluss vom Unterricht nicht grundsätzlich ausschließen, der im Kontext der Paragraphen sicher verhaltensbedingte Gründe hat und in den Augen des Gerichts zu unbestimmt ist. So vermisst es wohl genauere Ausführungen zum Zweck der Regelung, zu den Voraussetzungen und damit zusammenhängend Kriterien der Schulaufsicht. Hier wird man zumindest partiell kritisch anmerken dürfen, dass es dazu verbindliche Ausführungsbestimmungen geben sollte, deren Umfang den Umfang eines Gesetzesparagraphen übersteigen dürfte. Ich finde aber, man sollte im Zusammenhang mit und in dem konkreten Paragraphen ruhig "Ross und Reiter" nennen: Es geht hier um die Gewährleistung eines geordneten Unterrichtsbetriebs sowie die Sicherung der psychischen und körperlichen Unversehrtheit von Schüler*innen wie des Lehrpersonals. Diese hat ebenfalls Verfassungsrang und steht in der Hierarchie dem Recht auf Bildung voran.

  18. 14.

    Da wäre sicherlich eine geschlossene Kinder- und Jugendpsychiatrie angebracht. Aber heute wird auf Minderheitenprobleme mehr Rücksicht genommen als auf die Probleme der Mehrheit. Personen, auch Kinder sind so zu separieren, dass von ihnen keine Gefahr für andere ausgeht.

  19. 13.

    Ich war in einer ganz ähnlichen Situation.
    Da die Senatsverwaltung (Schulrat) alle Umsetzungsanträge abgeschmettert hat, immer mit der Begründung "Wir haben keine Lehrer...", hab ich gekündigt und bin an eine Privatschule.
    Wegen eines Schülers. Der ist da immer noch und die nächste Kollegin geht.
    Ich bin weder für den Nahkampf ausgebildet, noch bin ich Kinderpsychiaterin!
    Und ich konnte es nicht mehr mit ansehen, dass alle anderen Schüler/Eltern der Klasse unter einem Schüler leiden.

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