Interview | Berliner Musikerin Christin Nichols - "Musikmachen ist kein Hexenwerk"

Fr 22.03.24 | 13:38 Uhr
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Christin Nichols (Quelle: Presse)
Presse
Audio: Radioeins | 19.03.2024 | Gespräch mit Christin Nichols | Bild: Presse

Christin Nichols ist schon fast kein Geheimtipp mehr. Die Berliner Musikerin hat ihr zweites Elektropop-Album "Rette sich wer kann" herausgebracht. Im Interview spricht sie über schmeichelnde Vergleiche, private Tragödien und fehlenden Musiknachwuchs.

rbb: Christin Nichols, Ihr neues Album habe ich bei mir zuhause laufen lassen, und von Freunden und Besuchern kamen dazu Kommentare wie: Ist das was Neues von Zweiraum Wohnung? Singt da Nena? Ist Judith Holofernes wieder bei Wir sind Helden? Mich erinnern Sie an Annette Humpe, jetzt fehlt nur noch Nina Hagen und Sie sind mit den Big Female Five, den wichtigsten deutschen Musikfrauen, vereint.

Christin Nichols: Katharina Thalbach hat auch schon mal gesagt, ich sähe aus wie die junge Annette Humpe. Und Nina Hagen liebe ich, die ist so echt und ungefiltert, so ungestüm, ein Vorbild.

Zur Person

Christin Nichols (Jahrgang 1986) wurde 2016 mit dem Duo Prada Meinhoff bekannt und avancierte 2022 mit ihrem Solodebüt "I'm fine" zum Feuilletonliebling. Ihr zweites Album "Rette sich wer kann" erschien am 22. März 2024. Ihr Vater kam aus Leeds, England, die Eltern betrieben im nordrhein-westfälischen Bünde die bekannte Musikkneipe "Dolbi". Nichols ist Absolventin der Ernst-Busch-Hochschule und noch bis 1. April als Schauspielerin in "Tartuffe" am Renaissance-Theater zu sehen. Nichols lebt in Berlin.

Wiegen diese Vergleiche schwer?

Nein, das ist schön und beflügelt mich, es wiegt leicht. Wenn, dann bin ich in mir manchmal schwer. Ich trage eine Schwere in mir, durch meine Geschichte vielleicht, oder weil ich so geboren bin, ich weiß es nicht.

Auf Ihrem neuen Album befindet sich ein Elektropop-Ohrwurm mit dem Titel "Citalopram". Das ist ein Antidepressivum. Hat Ihre Schwere damit zu tun? Leiden Sie an Depressionen?

Ja, ich würde sagen: in Amplituden. Im Moment nehme ich keine Medikamente, hatte aber vor drei Jahren eine extrem dunkle Zeit und leide schon, seit ich Kind bin, an Panikattacken. Ich habe auch jahrelang Therapie gemacht und bin froh, dass es gerade relativ stabil ist. Mir ist bei dem Song vor allen Dingen wichtig, zu entstigmatisieren. Denn der Schrecken schwindet, je mehr man darüber spricht, und je mehr man merkt, dass man nicht alleine ist.

Meine größte Angst ist immer, ganz alleine zu sein, ohne Rudel, ohne Menschen. Ich kenne furchtbare Phasen, in denen wirklich nichts mehr ging. Aber zu wissen, ich bin nicht allein, hilft schon manchmal ein bisschen.

Konnten Ihre Eltern, als Sie klein waren, nicht für Sie da sein?

Das war alles bei uns nicht so ganz easy, ohne jetzt zu sehr ins Detail zu gehen. Mein Vater ist verstorben, als ich 14 war - ganz plötzlich. Das habe ich noch nie erzählt - das macht etwas mit einem, das muss man erstmal verarbeiten, das prägt einen.

Wenn Sie an Panikattacken leiden, war dann die Corona-Zeit für Sie besonders hart?

Das Gegenteil war der Fall. Ich hatte das Glück, dass ich vorher am Theater war und ein bisschen Ausfall-Gage hatte, damit kam ich finanziell irgendwie hin. Bei mir kommen Panikattacken nicht durch exogene Faktoren, also von außen durch Stress oder ähnliches, sie kommen meistens aus dem Inneren. In England sagt man "Things come up to leave", Sachen kommen hoch, um durch die Tür zu gehen und zu verschwinden.

Man hatte plötzlich viel Ruhe, ich konnte einfach ich sein und hatte Zeit, mich mit meinen dummen kleinen Gefühlen zu beschäftigen, mit mir selbst zu sitzen. Man kann sagen, dass ich während Corona zu mir selbst und meiner Sprache gefunden habe, zu meiner musikalischen Sprache.

Diese Stimmigkeit Ihrer Person mit Ihrer Musik und den feministisch frechen Texten ist auffällig. Ich könnte mir vorstellen, dass schon jetzt viele Festivals bei Ihnen anklopfen, denn die brauchen unbedingt weibliche Musiker und Sie spielen Gitarre und haben eine Band.

Ich kriege, glaube ich, nicht extra Anfragen, weil ich eine Frau bin. Aber grundsätzlich muss sich da noch sehr viel tun. Als ich jünger war, gab es kaum Frauen in der Musik. Klar, die erste Frau mit Gitarre war Suzi Quattro, die ich total feiere. Es gab Janis Joplin, Joan Jett und die Bangles, aber das war die Musik meiner Mom.

Die erste Frau mit Gitarre, die für mich bedeutsam war, war Brody Dalle von den Distillers, sonst waren das alles immer Macker. Für mich gab es Ende der 90er, Anfang der 2000er wirklich viel zu wenig Role Models, auch im Hip-Hop nicht, wo ich eigentlich herkomme. Wir müssen einfach mehr Frauen auf Bühnen bringen, damit junge FLINTA* [Anm. d. Red. die Abkürzung steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen. Der Begriff bezieht sich auf geschlechtliche Identität und nicht auf sexuelle Orientierung] Vorbilder haben und denken, das kann ich auch und anfangen, ernsthaft Musik zu machen. Es ist kein Hexenwerk by the way.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview mit Christin Nichols führte Anja Caspary, rbb24 Inforadio.

Sendung: Radioeins, 19.03.2024, 19:50 Uhr

1 Kommentar

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  1. 1.

    Kannte ich bisher nicht. Nach einem Blick auf YouTube: gefällt mir!

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