Brandbrief an Wegner - Berliner Kindernotdienst warnt vor "unhaltbaren Zuständen"

Do 08.06.23 | 15:23 Uhr
  37
Symbolbild:Das Haus des berliner Kindernotdiensts in Berlin-Kreuzberg.(Quelle:imago images/E.Contini)
Audio: rbb24 Inforadio | 08.06.2023| Sebastian Schöbel | Bild: imago images/E.Contini

Der Berliner Kindernotdienst warnt in einem Brandbrief vor einer Überlastung des Personals und spricht von einer "Katastrophe mit Ansage". Jugendstaatssekretär Liecke will sich in den nächsten Tagen ein Bild machen, schwächt die Vorwürfe aber ab.

Der Kindernotdienst in Berlin schlägt erneut Alarm. In einem Brandbrief an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner und Familiensenatorin Katharina Günther-Wünsch (beide CDU) warnen Mitarbeitende vor unhaltbaren Zuständen, durch die das Wohl der Minderjährigen teils akut gefährdet sei.

Wegen Überlastung des Personals sei die Betreuung der in Obhut genommenen Kinder kaum noch möglich, es komme regelmäßig zu Selbstverletzungen, körperlichen und mehrfach auch sexualisierten Übergriffen, heißt es in dem Schreiben, das dem rbb vorliegt. "Einige der Kinder bewaffnen sich mit spitzen Gegenständen oder Messern, um sich vor Übergriffen zu schützen oder selbst welche zu begehen." Zudem müssten die Kinder zum Teil monatelang in der Kindernothilfe bleiben, statt wie vorgesehen nur wenige Tage.

Liecke: Vorwürfe schwer nachzuvollziehen

Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) sagt, er nehme die Anwürfe sehr ernst. Ihm falle es allerdings etwas schwer, sie nachzuvollziehen. "Es geht um zehn Plätze, die nie oder in den seltensten Fällen zu hundert Prozent belegt sind. Es geht um einen relativ überschaubaren Kreis von jungen Leuten. Wenn Sie überlegen, dass sie 45 Kolleginnen und Kollegen vor Ort haben, stellt sich die Frage, ob das nicht überzogen ist, was da geschildert wird."

Der Jugendstaatssekretär räumt ein, dass die ursprünglich vorgesehene Betreuungsdauer von drei Tagen im Kindernotdienst oft nicht eingehalten werde. Die bezirklichen Jugendämter würden häufig nicht schaffen, etwa für psychisch kranke Kinder eine geeignete Unterbringung zu finden. Der Senat habe dafür eine Koordinierungsstelle eingerichtet und schaffe es in der Regel auch, die Kinder unterzubringen, so Liecke.

In den nächsten Tagen werde er sich vor Ort ein Bild machen, sagt Liecke. Zwei Stellen im Kindernotdienst seien momentan nicht besetzt, zwei in der Ausschreibung. Wenn alle an Bord seien, müsse das System gut funktionieren.

Liecke zufolge wurde schon viel getan, um die Situation im Kindernotdienst zu verbessern, zum Beispiel durch tagesstrukturierende Angebote für die dort betreuten Jungen und Mädchen. "Fairerweise wäre es gut, vielleicht mit uns direkt zu reden und keine Brandbriefe in die Welt zu setzen, wo auch in Teilen Unwahrheiten drinstehen."

"Katastrophe mit Ansage"

Konkret geht es Liecke um eine Passage des Briefes, in dem sich die Mitarbeitenden auf einen Vorfall in Nordrhein-Westfalen beziehen. Im März war in Freudenberg eine Zwölfjährige von zwei gleichaltrigen Mädchen getötet worden. Die Mitarbeitenden des Kindernotdienstes warnen davor, dass Ähnliches auch in Berlin drohe. "Wir sagen an dieser Stelle in aller Deutlichkeit, dass dazu nicht mehr viel fehlt. Sei es durch Fehleinschätzungen aufgrund unzureichenden Personals, sei es durch Selbstverletzung oder körperliche Übergriffe." Die Lage sei schon lange bekannt, und was im Kindernotdienst geschehe, so der Brief, sei "eine Katastrophe mit Ansage".

Die Mitarbeitenden fordern vom Senat vor allem eine sofortige Verbesserung der Personalsituation, zum Beispiel durch Leiharbeitskräfte. Allein die neun Mitarbeitenden im Betreuungsbereich hätten Stand Anfang Mai mehr als 1.000 Überstunden angesammelt, heißt es in dem Schreiben. Immer wieder würden Mitarbeitende ausfallen, weil sie krank werden, oder sich resigniert zurückziehen. Zudem müsse es in den Bezirken mehr adäquate Angebote geben, besonders für psychiatrisch Auffällige Kinder. Auch die Unterbringungskapazitäten müssten vergrößert werden. Ein vierter Standort des Notdienstes sei "seit mindestens einem Jahr im Gespräch". Die dort geplanten vier bis sechs Plätze seien aber schon jetzt zu wenig.

Kritik auch an Rot-Grün-Rot

Dem Vorgängersenat von SPD, Grünen und Linken werfen die Mitarbeitenden vor, die Lage nicht ernst genug genommen zu haben. Die ehemalige Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) hatte noch im März erklärt, der Krankenstand beim Kindernotdienst sei nicht außergewöhnlich hoch, zudem würden immer wieder Mitarbeitende anderer Verwaltungen aushelfen. Die Bildungsverwaltung räumte aber auch ein, dass es aufgrund des Fachkräftemangels schwer sei, neues Personal zu finden.

Sendung: rbb24 Abendschau, 08.06.2023, 19:30 Uhr

37 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 37.

    Neben dem Geld auch um den Willen der politisch Verantwortlichen. Eine bis vor wenigen Jahren doch Recht gut funktionierende Einrichtung wie der Kindernotdienst geht nun den Bach runter, wenn nicht sofort gehandelt wird.

  2. 36.

    Die Situation im Kindernotdienst macht xemplarisch deutlich, dass die maroden Jugendhilfestrukturen auf dem Rücken der Kinder und der Sozialarbeiterin en und Erzieherinnen ausgetragen werden. Das betrifft auch die Sozialarbeiterin en in den Berliner Jugendämtern. Es wird immer Elternhäuser geben, die versagen, dann ist es Aufgabe des Staates zu schützen. Aber Kinder aus sozial schwachen Familien haben keine Lobby. Es gibt zu wenig Hilfsangebote, es geht immer ums Geld. S.weiterer Kommentar

  3. 35.

    Es ist durchaus nachzuvollziehen, dass es schwierig ist, Mitarbeiter für diesen Bereich zu finden. Eine fundierte Ausbildung ist hier unerlässlich, denn es sind ja keine "normalen", sondern seelisch geschädigte Kinder, die eine besondere Behandlung benötigen -- Empathie, Konsequenz Strenge,wenn nötig. Das tägliche Zusammensein mit diesen Kindern kann zu enormer, psychischer Belastung der Betreuer führen, und Hilfe durch Quereinsteiger ist illusorisch

  4. 34.

    Ich fand die Äußerungen von CDU man sehr arrogant, unwissend und nicht hilfreich. Die Probleme des Kindernotdienstes sind längst bekannt schon seit mindestens 5 Jahren. Hier kommen und mit Zahlen spielen und behaupten, dass die Unwahrheiten gesagt wurden, ist nur beschämend.

  5. 33.

    Stimme zu, ohne konsequente (!) Arbeitsverweigerung wird sich nichts bewegen.
    "Berlin als Wirtschaftsstandort attraktiv zu halten", da liegt der Hase im Pfeffer.
    Leider wird daran auch die konsequente (!) Arbeitsverweigerung nichts ändern, da sind alle am Zuge.

  6. 32.

    ..... Leiharbeitskräfte für einen so sensiblen Bereich anzufordern erscheint mir höchst fragwürdig.
    Das ist für mich ein Eingeständnis von Überforderung und Desinteresse des jetzigen Personals dieser Einrichtungen. Man sollte doch wohl erwarten können das man sich für qualifizierte und stetig ansprechbare Vertrauenspersonen einsetzt.
    Das sind Kinder in Not,.... nichts was man mal nebenbei verwahren kann!!!!
    Erziehung und Bildung fängt übrigens für mich im Elterhaus an,... vielleicht sollte man da mal ansetzen. Weder die Politiker noch die Verwaltung haben Schuld an diesem Desaster! Einzig und allein die Gesellschaft.

  7. 31.

    ..... Leiharbeitskräfte für einen so sensiblen Bereich anzufordern erscheint mir höchst fragwürdig.
    Das ist für mich ein Eingeständnis von Überforderung und Desinteresse des jetzigen Personals dieser Einrichtungen. Man sollte doch wohl erwarten können das man sich für qualifizierte und stetig ansprechbare Vertrauenspersonen einsetzt.
    Das sind Kinder in Not,.... nichts was man mal nebenbei verwahren kann!!!!
    Erziehung und Bildung fängt übrigens für mich im Elterhaus an,... vielleicht sollte man da man ansetzen. Weder die Politiker noch die Verwaltung haben Schuld an diesem Desaster! Einzig und allein die Gesellschaft.

  8. 30.

    Ich arbeite in einem Berliner Jugendamt und kann den Bericht zu 100 % bestätigen. Das gesamte Jugendhilfesystem in Berlin ist 2015 gekippt. Eine stationäre Versorgung durch Krisenplätze oder eine allgemeine geplante Versorgung außerhalb der Familie ist nur noch Zufall. Aktuellen internen Hochrechnungen sind 1000 Kinder und Jugendliche stationär versorgungspflichtig und können nicht versorgt werden. Kommt dann noch ein reeller Jugendhilfebedarf hinzu, ist es fast unmöglich. Die Einrichtungen haben das Personal nicht zur Verfügung 100 der Kapazitäten freizugeben, sind überbelegt und schauen sich gezielt die jungen Menschen an. Sobald dort ein erhöhter pädagogischer und psychiatrischer/seelischer Bedarf ist bekommen sie die jungen Menschen nicht versorgt. Falls sie jetzt an eine Kinder- und jugendpsychiatrie zur Versorgung denken…. Gleiche Lage wie im Notdienst. Wenn die jungen Menschen aus den geschlossenen Abteilungen abhängig sind, können sie sich vorstellen wie sicher es dort ist.

  9. 29.

    Dieses elende Gejammere, man kann es nicht mehr hören. Vergesst nicht Leute, dass die Politiker vom Volk gewählt werden durch Wahlen. Das heißt in der Schlussfolgerung, dass diese Zustände ja ganz offensichtlich der Wille des Volkes sein müssen, denn in etlichen Kommentaren wurde bereits geschildert, dass die Problem schon Jahre oder gar Jahrzehnte bestehen und nicht über Nacht aufgetaucht sind und Leute wählen immer noch die Selben Nix-auf-die-Reihe-Bekommer wählen oder die ewig Desinteressierten, die meinen, Wahlen würden sie eh nichts angehen, dann aber die ersten sind die die Klappe uffreißen wenn's ums meckern geht. Nicht nachvollziehbar. Aber schön, dass wohl endlich alle zu begreifen scheinen (auch die ewig Gestrigen) wo die Reise in Deutschland hingeht und aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen.

  10. 28.

    Unerklärlich ist es nicht, denn alle Bereiche, in denen Kinder auffällig werden, sind auf Kante genäht. Sa aber gerade die entsprechenden Familien extrem viel Energie und Zeit kosten ubd noch immer alles auf der freiwilligen Mitarbeit der Eltern basiert, gibt es Kinder, an die man nicht herankommt, wenn nicht eines Tages die Polizei uns Spiel kommt.
    Zudem gibt es politischen Kreisen durchaus entscheidende Personen, die auf höchster Ebene blockieren, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

  11. 27.

    Kinder scheinen generell vergessen zu werden und das nicht nur in Berlin. Fängt bei der Suche nach Kinderärzten an, Schulbildung weil keine Lehrer da sind usw. Es ist eine Schande und dann wundert die Politik sich dass unser Land "veraltet". Kein Wunder, denn ich würde keine Kinder mehr haben wollen in der heutigen Zeit.

  12. 26.

    Im Senat hat seit Jahren niemand den Knall gehört. Ist auch kein Wunder, denn dort sammelt sich die Hoffnung auf persönlichen Aufstieg gepaart mit dem Interesse, Berlin als Wirtschaftsstandort attraktiv zu halten. Wozu denn da noch unnötige Ausgaben fürs Kinderleid? Der Laden läuft ja dank all der Kolleg*innen, die sich in Selbstaufgabe und Kollegialität kurz vor/im/nach dem Burn-Out befinden oder resigniert haben und Dienst nach Vorschrift machen. Es wäre zu wünschen, dass sich endlich alle Beschäftigten in der Berliner Jugendhilfe zusammentun und ihre Arbeitskraft unter diesen Bedingungen kollektiv verweigern - alles andere wird keine Verbesserungen bringen.

  13. 25.

    Die Kinder im Jugendnotdienst sind dort, weil sie eben kein sicheres Zuhause haben und die Eltern sich nicht sorgsam oder überhaupt um ihre Kinder kümmern (können). Die Kinder im Kindernotdienst haben keine Alternative und brauchen Hilfe.
    Das ist die Situation.
    Und da ist erstmal nicht wichtig, wer Schuld daran trägt.
    Die Kinder sind es nicht.
    Sie können sich nicht wehren.
    Die Kinder sind die Opfer

  14. 24.

    In dem Artikel ist von Kindern die Rede, die verwahrlost, misshandelt und/oder noch sexuell mißbraucht wurden. Natürlich sind die Eltern in der Verantwortung für eine geschützte Kindheit, leider aber auch die Täter.

  15. 23.

    Es gibt ein SGB VIiI = Kinder-und Jugendhilfegesetz, das bundeseinheitlich regelt, Kinder und Jugendliche bei Gefahr in Verzug in Obhut zu nehmen. Das muss die Verwaltung richten, nicht die Politik. Die Politiker haben ja das Gesetz 1990 entschieden. Herr Lieke ist ein neuer politischer Beamter, somit muss er jetzt ran und seinen Verwaltungsapparat so aufstellen, dass er als Oberhäuptling dem Bundesgesetz gerecht wird. Leistung fürs Staatssekretärengehalt.

  16. 22.

    Bei der heutigen Hitze sollte man vom Rauschgift Alkohol doch lieber die Finger lassen oder ein Schläfchen machen und aufs Kommentar-schreiben verzichten.

  17. 21.

    Liebe Tabakindustrie: könnt ihr eure Bots bitte woanders kalibrierieren und scharf stellen…? Und an Grammatik und Orthographie muss gearbeitet werden…
    Meine Fresse

  18. 20.

    Wenn Verbrecher behaupten Zigaretten sind ein Rauschgift, dann saufen Erwachsene taeglich das Rauschgift Alkohol. Mehr gibts zu der kriminellen Pokitik seit 2002 nicht mehr zu sagen. Hoeren sie auf zu sagen Zugaretten sind ein Rauschgift. Rauschgift ist Alkohol. Und nicht Zigaretten. Jede Pulle Schnaps ist Rauschgift. Recgtsradikal gegen Zigaretten. Alkohol ist das Gift das Rausxh ausloest. Nicht Zifaretten. Die kriminelle EU hat nur eine Absicht, Alkoholhandel seit 2002....mehr nicht... So was unverschaektes habe ich noch nie gehoert, das Zigaretten ein Rauschgift sind, obwohl nur Alkohol Rauschausloeser ist. Den Handel mit Alkohol muesste man diesen Verbrechern international verbieten. 1. Zigaretten sind kein Rauschgift 2. Alkohol wirkt wie ein Rauschgift.... Den Terror der Nichtraucher muss sich niemand mehr anhoeren. Dahinter stecken ihre Alkoholdealer....

  19. 19.

    "Kindernotdienst warnt vor. . . . . . . !"
    Das ist gut und richtig, nur leider wird es wieder niemanden interessieren!
    Geht ja schließlich nicht um's Klima, Fahrradwege, LG, VEGAN sein und oder Flüchtlinge. Denn DAS sind doch die eigentlich wichtigen Themen in Berlin.
    Nur DARÜBER wird geredet, alles andere muß hinten anstehen. . . . . . . . .

  20. 18.

    Ich kann Ihnen natürlich nur Recht geben, jedoch hilft es den Kindern momentan und längerfristig leider nicht.
    Die Politik MUSS SOFORT eingreifen.
    Nur das Wie stellt das große Problem: Ist Personalbeschaffung z.B. durch "Amtshilfe" aus anderen Bundesländern möglich?

Nächster Artikel