Alte Munition im Meer: Wie gefährlich ist die Sprengung?

Stand: 22.11.2023 15:13 Uhr

Es sind buchstäblich Zeitbomben: Tausende Sprengkörper korrodieren am Grund der Ostsee vor sich hin. Vor einer möglichen Räumung der Munition gibt es viele Fragen. Forscher suchen Antworten.

von Jörn Zahlmann

Die Forscher des Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung aus Kiel sind an diesem milden Herbsttag unterwegs mit dem Forschungskutter "Littorina". Ihr Ziel ist das Sperrgebiet bei Schönhagen (Kreis Rendsburg-Eckernförde). Sie wollen herausfinden, was bei einer Sprengung unter Wasser passiert - sowohl physikalisch als auch chemisch. "Es gibt zwei Umweltgründe, warum diese Unterwasser-Sprengungen nicht gut sind", sagt Aaron Beck vom Geomar. "Das Hauptproblem ist die Druckwelle, die die Kommunikationsorgane zum Beispiel von Schweinswalen zerstören kann. Und das zweite Problem ist, dass giftige Chemikalien freigesetzt werden."

TNT im Wasser und in Tieren

Rund 300.000 Tonnen konventionelle Kampfmittel liegen auf dem Boden vor der deutschen Ostseeküste, schätzen Experten. Der größte Teil befindet sich in sogenannten Versenkungsgebieten. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Deutsche Wehrmacht und die Alliierten dort nämlich massenhaft Munition verklappt: Seeminen, tonnenschwere Bomben, Torpedos und etliches mehr. Wie viele Kampfmittel wo genau liegen, erforschen Wissenschaftler gerade unter anderem in der Lübecker Bucht.

Langfristig könnte der Sprengstoff die Ostsee vergiften, befürchten die Forscher. Teile der Waffen sind bereits so stark verrottet, dass der enthaltene Sprengstoff im Wasser gelöst wird. Die Forscher konnten erhöhte Konzentrationen der Sprengstoffe Trinitrotoluol (TNT) und Hexogen (auch RDX genannt) in Wasserproben, Fischen und Miesmuscheln nachweisen. Bei Fischen im Versenkungsgebiet Kolberger Heide in der Kieler Förde nördlich von Heidkate (Kreis Plön) haben Wissenschaftler bereits eine Häufung von Lebertumoren registriert. Wenn solche Munitionsreste nicht sicher transportiert werden können, müssten sie vor Ort gesprengt werden. Welche Auswirkungen das auf die Ostsee hätte, ist bislang kaum bekannt.

Forschung und Bundeswehr kooperieren

Weiteren Sprengstoff kann die Ostsee wohl kaum gebrauchen. Trotzdem soll es heute knallen. Die Forscher um Aaron Beck nutzen eine Spreng-Serie der Bundeswehr für ihre Arbeit. Die Marine untersucht neben Umweltaspekten auch, wie Schiffe und deren Besatzung besser vor Unterwasserwaffen geschützt werden können. Sie haben gleich mehrere Sprengungen geplant, immer mit unterschiedlichen Mengen TNT. Die größte Sprengladung enthält knapp 112 Kilogramm TNT. Solche Untersuchungen gibt es nach Bundeswehr-Angaben seit vielen Jahrzehnten im Sperrgebiet Schönhagen. Sie werden demnach nur durchgeführt, wenn es unumgänglich ist.

Die Folgen von Schall und Chemie

Geomar-Forscher Aaron Beck sitzt vor Messinstrumenten am Schreibtisch in einem Labor © NDR Foto: Jörn Zahlmann
Geomar-Forscher Aaron Beck kann in den Wasserproben kaum TNT nachweisen. Die Proben hat er unmittelbar nach den Sprengungen entnommen.

Aaron Beck erhofft sich von den Explosionen Antworten auf bisher unbeantwortete chemische Fragen. "Bisher gibt es sehr wenige wissenschaftliche Daten darüber, was passiert, wenn TNT unter Wasser explodiert. Deshalb wollen wir Wasserproben entnehmen, um zu sehen, welche chemischen Stoffe austreten."

Zum Team auf dem Forschungsschiffes "Littoriana" gehört auch Meeresgeophysiker Jens Karstens. Ein Kran hat seine eigens entwickelten Ozeanboden-Seismometer vor dem Ablegen noch aufs Schiff gewuchtet. Sie sollen gleich auf dem Meeresboden die Erschütterungen der Detonation in unterschiedlichen Entfernungen messen. "Das sind sogenannte Lander, die man auf den Meeresboden stellt. In diesem Fall sind sie mit Seismometern ausgestattet, wie man sie vielleicht so ähnlich von Erdbebenmessungen kennt", erklärt Karstens.

Sprengungen als letzte Option

Sprengungen sind für die Wissenschaftler nur dann eine Option, wenn eine Bergung nicht möglich ist. "Wenn die Munition geborgen wird, dann sollte sie ja bestenfalls nicht explodieren. Manchmal - das kennt ja auch von Weltkriegsbomen an Land - können die Waffen nicht sicher geborgen werden. Dann ist die Sprengung die einzige Lösung", sagt Karstens. Zur Bergung dieser Munitionsaltlasten startet im Jahr 2024 ein mit 100 Millionen Euro vom Bund gefördertes Pilotprojekt.

Hotspots in Kolberger Heide und Lübecker Bucht

Auch in der Lübecker Bucht sind viele Bomben schon so weit korrodiert, dass große Mengen TNT freiliegen. "Die Konzentration von TNT in der Ostsee insgesamt ist noch sehr niedrig und teilweise zehntausendfach unter einem kritischen Grenzwert. Wir können aber deutlich sehen, dass in munitionsbelasteten Gebieten Wolken von TNT entstehen", sagt Beck. Eine Wolke TNT ist nun gleich auch in Schönhagen zu erwarten. Die Testsprengung steht unmittelbar bevor. Ein Countdown, ein dumpfer Knall, eine Fontäne aus Wasser und dunklem Sediment: Alles läuft wie geplant.

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Geomar-Forscher hoffnungsvoll

Einige Wochen später steht Aaron Beck zufrieden im Labor in Haus 12 des Kieler Geomar-Instituts. Ein nagelneuer Sprengstoff-Messapparat hat gute Nachrichten für ihn, nachdem Beck das Gerät mit einer der Schönhagen-Proben gefüttert hat. Mehr als 99 Prozent des TNT seien unmittelbar nach der Sprengung abgebaut. "Bei dem modernen Sprengstoff der Bundeswehr ist die Gefahr ziemlich gering", sagt Aaron Beck zur Umweltbelastung. "Nach unseren Messungen ist fast der gesamte Sprengstoff weg nach der Sprengung." 

Hohe TNT-Werte bei alter Munition

Die Forschung steht bei dieser Frage noch am Anfang. Auch die Toxikologen der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel beschäftigen sich damit. Sie haben mit der dänischen Marine zusammengearbeitet und vor wenigen Tagen ihre Ergebnisse veröffentlicht. Bei der Sprengung von fast 80 Jahre alten Waffen in dänischem Seegebiet konnten sie teilweise millionenfach erhöhte TNT-Werte nachweisen. Das Forschungsteam hat neben Wasser- auch Sedimentproben genommen und im Meeresgrund nach eigenen Angaben bis zu 100 Millionen Mal mehr TNT als zuvor nachgewiesen. Die CAU-Forscher um Prof. Dr. Edmund Maser empfehlen deshalb andere Techniken, um das Erbe des Krieges zum räumen, wie zum Beispiel Roboter. 

Gefahr für Schweinswale bleibt

Die Sprengungen sind zudem ein Problem für die Tierwelt. "Was wir bei unseren Messungen jetzt schon sehen, ist, dass das Signal unserer Seismometer mit größerer Entfernung stark abnimmt. Wenn wir unsere Messungen in 750 Meter Entfernung mit denen in zehn Kilometer Entfernung vergleichen, ist das Signal ungefähr um den Faktor 100 schwächer", bilanziert Geophysiker Karstens an Bord der "Littorina". Was das allerdings genau für Säugetiere wie den Schweinswal bedeutet und inwiefern man diese gefährdeten Tiere auf Basis dieser Erkenntnisse vor Sprengungen schützen kann, müssen laut Karstens nun Meeresbiologen untersuchen.

Ein lösbares Problem?

Für Beck zeigen seine Ergebnisse, dass das Problem der Munitionsaltlasten ein lösbares ist: "Die Munition in der Ostsee ist eines der wenigen Umweltprobleme in der Ostsee, die wir mit ganz konkreten Maßnahmen lösen können", sagt Beck. "Andere Chemikalien kann man nicht so einfach entfernen." Bleibt also nur die Frage, wie viel Zeit sich die Politik noch lassen will, denn irgendwann gibt es keine Bomben mehr in der Ostsee, sondern nur noch freiliegendes TNT. Das wäre dann ein richtig großes Problem.

VIDEO: Munitionsreste und TNT-Belastung in der Ostsee | salty FiSH (23 Min)

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | 22.11.2023 | 08:00 Uhr

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