Die Fotografin Julia Paul muss 7.500 Euro an ihre Krankenversicherung zahlen, weil sie eine Abgabefrist versäumt hat. (Foto: SWR)

Betrifft Selbstständige und Freiberufler

Versicherte kämpfen gegen "unfaire" Krankenkassenforderung

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AUTOR/IN
Jeanette Schindler

Freiberufler und Selbstständige müssen jedes Jahr ihre Einkommensbescheide bei der Krankenkasse einreichen. Wer das versäumt, zahlt den Höchstsatz - unabhängig vom Einkommen.

Julia Paul traute ihren Augen nicht, als sie am 10. Januar 2023 einen Brief von der Techniker Krankenkasse öffnete. Weil sie ihren Einkommensbescheid als selbstständige Fotografin nicht rechtzeitig bei der Krankenkasse eingereicht hat, muss sie nun den Höchstsatz für das Jahr 2019 nachzahlen: 7.558,20 Euro. Das sei etwa die Hälfte ihres gesamten damaligen Jahreseinkommens gewesen, sagt sie. Die 36-jährige Fotografin aus Landau, die sich damals gerade selbstständig gemacht hatte, war geschockt. Sie wusste nicht, wie sie die Summe auftreiben sollte. Aber ihre Krankenkasse drohte ihr, dass ihre Einkünfte gepfändet würden und sie den Versicherungsschutz verlieren würde.

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Gesetzesänderung führt ab 2022 zu hohen Nachforderungen

2022 zeigte erstmals eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2018 Folgen. Selbstständige und Freiberufler zahlen seither einen vorläufigen monatlichen Beitrag zur Krankenversicherung und müssen am Ende des Jahres ihren Steuerbescheid oder Verdienstnachweise bei der Kasse nachreichen. Dann wird der Beitrag endgültig festgelegt und eventuell wird eine Nachzahlung fällig. Für die Nachreichung des Steuerbescheids oder der Verdienstnachweise hat man drei Jahre Zeit. Versäumt man diese Frist, muss man für das entsprechende Jahr den Höchstsatz zahlen. Dieser "Versäumnisfall" trat mit dem 31. Dezember 2021 zum ersten Mal ein. Schon damals wurde die Änderung von den Verbraucherzentralen diskutiert, aber die Beschwerden der betroffenen Versicherten wurden nur im Einzelfall betreut. 2023 ist die Verbraucherzentrale an die Öffentlichkeit getreten und fordert, dass die Politik diese Ungerechtigkeit im Bundesgesetz beseitigt.

Mehr als 7.000 Euro Strafe für versäumte Frist

"Ich kann das absolut verstehen, dass die Krankenkassen nicht ewig den Einkommensbescheiden hinterherrennen wollen", sagte Paul. "Das kostet ja auch Zeit und Personal. Und ich verstehe auch, dass so ein Säumniszuschlag eine erzieherische Maßnahme sein kann, damit die Leute ihre Sachen rechtzeitig abgeben. Aber nach fünf Tagen Verspätung gleich so eine Summe zu verlangen, das ist unangemessen", sagt Julia Paul.

Auch Hans Schaffelhuber aus Battenberg hat Verständnis dafür, dass es Sanktionen gibt. Dass er aber als Rentner nun 7.900 Euro an seine Krankenversicherung, die Pronova BKK, zahlen soll, findet er ungerecht. Der Rentner macht für seine Frau, die mit einer kleinen Änderungsschneiderei noch etwas zu ihrer gemeinsamen Rente hinzu verdient, die Buchhaltung. Von der Gesetzesänderung habe er nichts mitbekommen, sagt er.

Das Ehepaar Schaffelhuber muss 7.900 Euro an ihre Krankenversicherung zahlen, weil sie die Frist versäumt haben. (Foto: SWR)
Das Ehepaar Schaffelhuber muss 7.900 Euro an seine Krankenversicherung zahlen, weil es den Einkommensbescheid für 2019 zu spät abgegeben hat.

"Die Krankenkasse hatte Ende des Jahres eine Erinnerung geschickt und den Einkommensbescheid für 2019 bis zum 31. Dezember 2022 gefordert. Aber da stand mit keinem Wort drin, was es für Konsequenzen hat, wenn ich den Bescheid auch nur einen Tag später wegschicke." In allen anderen Jahren habe er die Bescheide rechtzeitig abgegeben und die Einkünfte seien immer gleichbleibend niedrig gewesen.

"Wir können keine 8.000 Euro bezahlen. So viel Geld haben wir nicht", sagt Schaffelhuber. Seine Krankenkasse hat ihm angeboten, die Summe in Raten von monatlich 100 Euro abzuzahlen. Auch andere Betroffene berichten, dass in den Erinnerungsschreiben nicht darauf hingewiesen wurde, dass rückwirkend für das gesamte Jahr der Höchstbetrag fällig wird. Dabei spielt es auch keine Rolle, wenn der geforderte Bescheid am 2. Januar bei der Kasse einging. Zu spät ist zu spät.

Konnten die Versicherten den Höchstbetrag nicht nachzahlen, verloren sie ihren Krankenversicherungsschutz. In diesen Fällen wurden nur noch Akut- und Notbehandlungen von der Kasse bezahlt.

Rheinland-Pfalz

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Verbraucherschützer halten die Sanktion für unfair

Die Verbraucherschutzzentrale Rheinland-Pfalz spricht von einer "überschießenden Sanktion" und fordert eine Klarstellung im Gesetz. "Die Sanktion ist unfair, da sie Versicherte mit sehr niedrigen Einkommen viel stärker trifft als Versicherte mit höherem Einkommen." Letztere trifft die Strafzahlung nicht so hart, während sie bei Frau Paul und Herr Schaffelhuber einen großen Teil ihres gesamten Jahreseinkommens ausmacht. Nach Auffassung der Verbraucherzentralen stellt die Vorschrift keine "Strafnorm" dar, mit welcher die Kassen Beiträge – völlig losgelöst vom Einkommen - verlangen dürfen.

"Solche Härten dürften auch vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt sein. Andernfalls hätte er es explizit so formulieren müssen" schreibt die Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. "Wir halten daher dieses Vorgehen für gesetzlich nicht gedeckt", sagt Julika Unger, juristische Fachberaterin im Bereich Gesundheit und Pflege.

Schon bei der Abstimmung des Bundestages über das Gesetz hatte die Verbraucherzentrale Niedersachsen genau das kritisiert und eine Änderung des Bundesgesetzes gefordert. Ihrer Auffassung nach dürfte der nachzuzahlende Beitragssatz maximal 20 Prozent über dem maßgeblichen Satz liegen oder es müsste eine Möglichkeit geben, die "Straf-Beiträge" zu umgehen, wenn man doch noch Verdienstnachweise bringt.

Krankenkassen kritisieren Strafzahlung nicht

Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) verweist auf die Rechtslage und teilte mit, die Krankenkassen hätten keinerlei Spielraum und müssten den Säumniszuschlag einfordern. Aber findet der Verband die Regelung gerecht? "Unsere Aufgabe als Körperschaft öffentlichen Rechts ist es, diese umzusetzen und nicht, sie zu bewerten. Hier wäre wiederum die Politik gefragt", teilte die GKV mit.

Das rheinland-pfälzische Gesundheitsministerium sieht keinen Handlungsbedarf und will sich nicht für eine Gesetzesänderung einsetzen. "Aus Sicht der Landesregierung ist diese bundesgesetzliche Regelung verhältnismäßig, zumal es um eine Vorlagepflicht mit großzügiger Fristenregelung geht. ….Es ist nur dann eine "Strafzahlung" für Geringverdiener, wenn sie nicht fristgemäß nachweisen, dass ihre tatsächlichen Einnahmen geringer waren als der Höchstbeitrag berechtigt. Sobald fristgemäß der Nachweis erbracht wurde, wird der Beitrag ordnungsgemäß festgesetzt.“

Bundesgesundheitsministerium prüft Änderung

Das Bundesgesundheitsministerium hat auf SWR-Anfrage angekündigt, sich mit der Sache zu befassen. "Die Anwendung der Regelung des § 240 Absatz 4a SGB V kann, insbesondere wenn ein nach Ablauf der Dreijahresfrist vorgelegter Einkommensteuerbescheid bei der Beitragsfestsetzung nicht mehr berücksichtigt wird, bei Versicherten im Einzelfall zu Härten führen. Aus diesem Grunde überprüft das Bundesministerium für Gesundheit derzeit, mit welchen gesetzlichen Änderungen in diesen Fallgestaltungen Abhilfe geschaffen werden kann. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen."

Betroffene haben keine Lobby

Die Frage ist nur, wann die Prüfung im Gesundheitsministerium abgeschlossen sein wird. Die Betroffenen haben zwar die Möglichkeit, vor dem Sozialgericht zu klagen, aber das hat keine aufschiebende Wirkung. Zahlen müssen erst einmal alle. Julia Paul hat sich das Geld schweren Herzens von ihrem Vater geliehen. "Die Krankenversicherung hat mir mit einem Zahlungsbefehl gedroht. Ratenzahlung wäre zwar grundsätzlich möglich gewesen, aber ich hätte das Geld innerhalb eines Jahres an die Techniker zahlen müssen. Raten von 500, 600 Euro im Monat – das kann ich mir einfach nicht leisten."

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Jeanette Schindler